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beim nächsten Mal anrufen, wenn ich mich verspäte. In Anbetracht der Tatsache, dass ich volle sechs Stunden Verspätung hatte und Humphrey bereits beschuht und frühschichtfertig am Küchentisch vor seinem allmorgendlichen Haferbrei saß, beeindruckte mich ihre Gelassenheit enorm, und ich nahm mir vor, ihnen so wenig schlaflose Nächte wie möglich zu bereiten.
Überhaupt überrascht mich das alte Pärchen immer wieder, das mir gegen die Anordnungen von Schwester, Schwager, Pastor und Eltern die größten Freiräume ermöglicht.
Sie fordern mich nicht auf, sie zur Kirche zu begleiten, und lassen mich, als sie für ein paar Tage zu Verwandten fahren, allein und unbeaufsichtigt ihren Trailer hüten. Gelegentlich schaut ihr Sohn Tyler vorbei, selbst eine von Kontrollverlusten geplagte Seele. Ihm sind diese Besuche so peinlich, dass er meist schon einige Bier intus hat, wenn er auf die Veranda poltert. Um mir genügend Zeit zu geben, alles Unerlaubte zu unterbrechen, zu beenden, zu verstecken oder zu beseitigen, kündigt er sein Kommen grundsätzlich mit extra lauten Schritten und Rufen an. Manchmal hupt er sogar, kurbelt das Fenster seines Trucks herunter und raucht erst mal eine Zigarette, bevor er sich an seinen Inspektionsbesuch macht. Wir merken schnell, dass wir nichts voneinander zu befürchten haben.
Tyler scheint das fast mehr zu erleichtern als mich.
Bald schon macht er sich nicht länger die Mühe, mir den aufgeräumten und pflichtbewussten Erwachsenen vorzuspielen, und erscheint mit Wohlfühlpegel und übergroßen Nike-Sweatshirts.
Tyler ist Alkoholiker. Quartalssäufer, um genau zu sein.
Ich kann nicht behaupten, dass mich das stört.
Schon bei einem seiner ersten Besuche zog ich Bernies Wiedersehensgeschenk unter meinem Bett hervor und bot ihm einen Drink an. Mit klirrenden Wassergläsern stießen wir auf unser gemeinsames Geheimnis, Leidensgenossenschaft und Versteckspiel an.
Tyler hat ein wunderbares, entwaffnend schuldbewusstes Lä cheln, von dem ich mir, wann immer es in seinem Gesicht aufleuchtet , wünsche, es sei meins. Man kann ihm einfach nichts übelnehmen, und ich bin mir sicher, dass sowohl Humphrey als auch Mona Verständnis für die Schwächen ihres Sohnes gezeigt hätten. Aber es ist wohl gerade diese Güte, die Tyler beschämt. Scham- und Schuldgefühle veranlassen ihn zu den raffiniertesten Täuschungsmanövern. Er unternimmt größte Anstrengungen, um vor seinen Eltern als verantwortungsvoller und pflichtbewusster Erwachsener auftreten zu können.
Ob sie wohl ahnen, dass er spätabends mit erloschenen Scheinwerfern an der Ecke Sycamore Street in seinem Truck sitzt und auf mich wartet? Schwer zu sagen. Möglich, dass sie taktvoll dazu schweigen, sich nicht aufdrängen, Rücksicht nehmen.
Sie haben Verständnis für Außenseiter, urteilen ungern und niemals vorschnell.
Mona selbst ist eine sogenannte Vollblutindianerin. Sie hat mir von ihrer Deportation erzählt. Wie so viele andere Indianerkinder wurde sie ihrer Familie entrissen und in ein Internat gesteckt. Mir Mona als kleines, weinendes Mädchen vorzustellen, fällt mir schwer. Sie ist eine stolze Frau, die sich auch jetzt, da ihr scharfgeschnittenes Pocahontas-Gesicht faltig und ihre einst bis zu den Hüften reichende schwarze Mähne auf wenige, mit Hilfe von Lockenwicklern zurecht geformte Strähnen zusammengeschrumpft ist, aufrecht hält, auf ihr Äußeres achtet und gerne buntbestickte Röcke und Lippenstift trägt. Die ganze Woche unterrichtet sie Kim zu Hause, versorgt mich mit reichhaltigen Lunchpaketen und lädt mich jeden Abend dazu ein, ihr beim »Matlock«-Gucken Gesellschaft zu leisten. Dann sitzen wir zusammen in dem vollgestopften Wohnzimmer, sie mit einer Tüte zucker- und salzfreiem Popcorn (sie kämpft tapfer gegen die Pfunde, die die Wechseljahre mit sich gebracht haben), ich mit einem Glas Milch (mit viel Rum, so viel Trost muss sein), und beobachten einen verschmitzten, weißhaarigen Alten beim Lösen angenehm vorhersehbarer Fälle. In den Werbepausen erzählt Mona Geschichten aus der Zeit vor ihrer Deportation. Von ihrer Großmutter, die jedes einzelne ihrer hundert Lebensjahre im Busch verbracht und noch als Greisin gefischt, gejagt und Beeren gepflückt hat, erzählt sie häufig. Ich höre zu und schnüffele dabei ängstlich an meinem Glas in der Befürchtung, es könne ein Hauch Rum-Aroma von der Milch in Monas oder Humphreys Nasen dringen, der mit geradem Rücken in seinem Sessel sitzt und
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