Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
berühren, dessen geisterhafter Schein die Treppe erleuchtete. Hörten diese gewendelten Stufen denn nie auf? Endlich wurde das rötliche Licht ganz unten am Ende der Treppe stärker, die Stimmen klarer. Sobald sie das Moos hinter sich gelassen hatte, presste sie sich flach an die Wand. Tiji wünschte, dass es nicht so verdammt kalt wäre, denn ihre Tarnkünste nützten ihr in diesem Pelzmantel nichts. Als sie den Vorraum am Fuß der Treppe erreichte, blieb sie stehen und spähte vorsichtig um die Ecke.
Und keuchte auf von dem Anblick, der sich ihr bot. Der kleine Vorraum öffnete sich in eine gewaltige runde Halle, die sich bis in die Ferne erstreckte. Soweit Tiji sehen konnte, war sie fast perfekt kreisrund, die gewölbten und geriffelten Wände von einem Feuerring erleuchtet, der sich am Fuß der Wände um die gesamte Kammer zog, als stünde das Eis selbst in Flammen. Im Mittelpunkt des Raumes befand sich ein rundes Podest aus solidem Eis, und daneben standen Lukys und Maralyce. Von Pellys war keine Spur zu sehen, aber dort auf dem Eisaltar – denn genau so sah das Podest aus, dachte Tiji – lag jemand in dem Mantel, den Oritha auf dem Weg hierher getragen hatte. Von dort, wo Tiji stand, war es schwer, viel zu sehen, aber die junge Frau lag auf dem Altar wie eine Tote. Was bemerkenswert war, denn auf dem Weg hierher war Tiji nur ein paar Schritte hinter Oritha gewesen.
Tiji starrte die seltsame Szene an, die noch seltsamer wurde, als sich neben Oritha auf dem Altar etwas Kleines und Pelziges regte. Es dauerte einen Augenblick, bis Tiji erkannte, dass es sich um irgendein Nagetier handelte.
Tiji spitzte die Ohren, um zu hören, was geredet wurde.
»Willst du das wirklich machen, Lukys? Bist du dir ganz sicher?«, fragte Maralyce ihren Begleiter. Die Unsterbliche stand mit verschränkten Armen da und sah auf Oritha hinunter, ohne Notiz von der Ratte zu nehmen, die um den Körper der jungen Frau herumwuselte. Die gewölbten Wände der weitläufigen Kammer verstärkten die Stimmen, sodass es selbst auf diese Entfernung klang, als stünde Tiji direkt neben ihnen statt am Höhleneingang.
»Coryna ist sich sicher.«
»Das denkst du nur, Lukys. Du weißt doch genauso gut wie ich, dass sie kaum in der Verfassung ist, rationale Entscheidungen zu treffen. Alles, woran sie denkt, ist ihre nächste Mahlzeit.« Maralyce schien die Ratte jetzt erst zu bemerken. »Lukys, wenn das wieder danebengeht …«
»Wird es nicht«, sagte er.
»Und bist du auch wirklich sicher, dass es mit Oritha funktioniert?«
»So sicher ich nur sein kann.«
Maralyce schwieg einen Augenblick, dann nickte sie. »Ich schütze, im schlimmsten Fall könntest du einen Crasii nehmen.«
Tiji fröstelte, und nicht wegen der Eishöhle. Was ist hier los? Was hecken sie hier unten in dieser geheimen Kammer aus? Und was hat das mit den Crasii zu tun?
Lukys schüttelte den Kopf. »Daran haben wir schon gedacht. Ks ist reichlich unwahrscheinlich, dass ein Crasii die kosmische Flutwelle überleben würde, und außerdem hätte Coryna etwas dagegen, in einem Körper zu wohnen, der möglicherweise seinen zwanghaften Drang beibehält, den Wünschen eines anderen Unsterblichen zu gehorchen.«
»Da ist was dran«, gab Maralyce zu. »Trotzdem, wir haben noch Arryls zwei Arks da. Zur Not dürfte einer von ihnen genügen.«
Lukys wirkte belustigt. »Hier geht es darum, ihre Situation zu verbessern. Ich glaube kaum, dass Coryna es zu schätzen wüsste, bis zur nächsten Königsflut in eine Echse verwandelt zu werden, Maralyce. Auch keine mit menschlichen Anteilen. Aber vielleicht wäre es tatsächlich sinnvoll, einen davon als Reserve bereitzuhalten, wenn es so weit ist. Nur für den Fall.«
Tiji runzelte die Stirn. Über wen reden sie da? Wer ist Coryna?
»Ich glaub ja gern, dass meine Schwester dir über ihre jetzige Lage ein paar Wörtchen zu sagen hat, wenn sie erst mal wieder sprechen kann«, bemerkte Maralyce. Dann fügte sie hinzu: »Aber was Oritha betrifft – solltest du damit nicht lieber warten, bis die anderen den Kristall des Chaos bringen?«
Lukys schüttelte den Kopf. »Sie würden im Gezeitenstrom spüren, was ich tue, wenn sie hier wären. Ich habe auch so schon genug Fragen zu beantworten.« Er lächelte auf seine bewusstlose junge Gemahlin hinunter. »Sie muss auf der Schwelle des Todes stehen, damit es funktioniert. Auch das habe ich letztes Mal gelernt. Ihr Puls muss so langsam sein, dass ihr Herz sich kaum noch bewegt, ihr Bewusstsein
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