Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
sich von Lukys in einen todesähnlichen Zustand versetzen ließ, damit er seine Technik perfektionieren konnte, war schlichtweg unheimlich. Hatte er wirklich vor, sie durch die Pforte zwischen den Welten zu führen, um in einer anderen Welt mit ihr ein neues Leben zu beginnen?
Zugegebenermaßen schien Lukys Oritha sehr gern zu haben, aber eigentlich war sie diesen ganzen Aufwand nicht wert.
Niemand war das, weder Mensch noch Crasii noch Ark.
Solcher Art waren die aufgewühlten Gedanken, die Tiji Umtrieben, während sie in ihrer eisigen Zelle umherging und sich fragte, warum sie noch nicht erstickt war. Die Grotte war versiegelt, aber von irgendwoher musste frische Luft hereinkommen. Oder vielleicht hatte Lukys irgendetwas Magisches mit der Luft angestellt, damit sie frisch blieb. Zum Glück hatte sie bei ihrer Einkerkerung den Pelzmantel getragen, den Arryl ihr gegeben hatte und ohne den sie ihre Kammer nie zu verlassen wagte – nur darum war sie noch nicht erfroren. Noch nicht.
Niemand kam, um nach ihr zu sehen. Zuerst quälte sie sich mit dem Gedanken, dass Azquil für die Lügen der Gezeitenfürsten so empfänglich war, dass er ihnen diese lächerliche Geschichte glatt glauben würde – dass sie beschlossen hatte, den Palast zu verlassen und sich alleine durchzuschlagen. Natürlich war das gar nicht mal so abwegig, denn genau das waren ihre letzten Worte an Azquil gewesen: »Geh doch und bedien deine heiß geliebten Unsterblichen! An denen liegt dir doch sowieso mehr als an mir! Ich habe diesen verdammten Palast so satt. Ich haue ab!« Rückblickend war das wohl kein sehr kluger Schachzug von ihr.
Aber trotzdem … man sollte doch meinen, dass er sich wenigstens noch mal flüchtig umsieht, wenn ich plötzlich verschwunden bin.
Selbst wenn sie noch so oft erklärt hatte, dass sie eigentlich unbedingt hier wegwollte – traute er ihr das wirklich zu, sich einfach so davonzumachen, so ganz ohne Abschied?
Weil, also jetzt mal im Ernst, was denkt er denn, wo ich hier hinwill?
Es ankerte kein Schiff an der Küste, das darauf wartete, sie nach Hause zu bringen – immer vorausgesetzt, dass sie es überhaupt so weit schaffte, ohne zu erfrieren. Sie war nicht einmal mehr sicher, wo »zu Hause« eigentlich war. Sie gehörte nicht nach Glaeba, das wusste sie jetzt. Aber sie war sich auch nicht sicher, ob sie in die Sümpfe von Senestra gehörte, wo man die verdammte unsterbliche Trinität verehrte.
Gezeiten, es ist so unfair. Seit die Unsterbliche Elyssa damals vor Jahrtausenden tobend vor Wut und Eifersucht ein Ferkel durch die Haut einer schwangeren Menschenfrau in ihre Gebärmutter und schließlich in das ungeborene Kind getrieben hatte, wurden die Crasii aufgerieben zwischen den widerstreitenden Kräften, zwischen Selbstschutz und den Unsterblichen. Wie all die anderen magisch erschaffenen Rassen war Tijis Rasse gezüchtet worden, um den Gezeitenfürsten zu dienen, und nur einige von ihnen waren in der Lage, diesem magischen Zwang zu widerstehen – so wie Tiji, tja, und Azquil, wenn man seinen Versicherungen trauen konnte …
Aber im Augenblick misstraute Tiji allem, was ihr Gefährte jemals zu ihr gesagt hatte. Auch wenn er noch so oft erklärt hatte, dass er Arryl aus freien Stücken nach Jelidien gefolgt war, schien es doch so, dass die Unsterbliche mehr Anspruch auf Azquil hatte als seine eigene Gefährtin. Er würde nicht kommen, um sie zu suchen. Selbst wenn er behauptete, einen eigenen Willen zu haben – hier war sie nun, steckte ohne jede Hoffnung auf Rettung in diesem eisigen Kerker fest, und das alles nur wegen Azquil.
Wieder blieb Tiji vor der durchscheinenden Eiswand stehen, die sie von der Freiheit trennte. Obwohl sie endlos davor hin- und hergelaufen war, hatte sie inzwischen den Versuch aufgegeben, sich hindurchzukratzen. Die Wand war zu dick – auch wenn auf der anderen Seite noch schattenhafte Umrisse zu erkennen waren, die den Gang hinuntergingen. Aber das Eis war auch zu dick, um Geräusche durchzulassen. Zu dick, als dass irgendjemand sie bemerken und entdecken konnte, dass sie hier unten gefangen war.
Ich bin so eine Idiotin. Azquil hatte schon recht. Wag dich nicht zu weit vor. Gib den Gezeitenfürsten, was sie wollen. Tu nichts, was sie aufregen könnte. Wie Tiji es hasste, so zu leben.
Und das hatte sie nun von ihrem Trotz – eine eisige Zelle und den langsamen Hungertod. Denn niemand würde kommen, um sie zu retten. Niemals.
In den Augen der kleinen Crasii stiegen Tränen der
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