Fantastik AG
überlegen«, sagte Filurion. »Wenn ich mich nicht
irre, müssten wir ganz in der Nähe des Unendlich Tiefen Abgrunds sein. Von da
aus â¦Â«
Plötzliches Licht erfüllte den Gang. Unzählige Ãberwacher drängten
geisterhaft geräuschlos in den Korridor.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Theodor verzweifelnd.
Der Elf hob seine Geige ans Kinn.
»Laufen Sie«, sagte er leise. »Ich halte sie auf.«
»Aber â¦Â«, sagte der Student.
»Hören Sie«, flüsterte der Elf. »Wir können uns entweder jetzt
auf der Stelle alle drei gefangen nehmen lassen, oder die winzige Chance
nutzen, dass zwei von uns entkommen.«
Er schlug prüfend die Saiten seiner Geige an und drehte an den
Stimmmechaniken.
Der Student und die Koboldin blieben gebannt stehen und sahen zu,
wie der Elf den schattenhaften Gestalten entgegenschritt, den Bogen hob und zu
spielen begann. Seine langen schlanken Finger tanzten über das Griffbrett und
entlockten dem Instrument schillernde Kaskaden von virtuosen Läufen und
gebrochenen Akkorden.
Die Ãberwacher krümmten sich und hoben ihre Schattenarme an die
Köpfe. Das Licht ihrer Augen erlosch und flackerte nur noch schwach.
»Verschwinden Sie endlich!«, rief Filurion. »Ich werde sie nicht
lange aufhalten können.«
Die Ãberwacher kamen langsam näher und umschlossen den Musiker von
allen Seiten, taumelnd in einem ohnmächtigen Tanz.
»Er hat recht«, sagte die Koboldin. »Komm.«
Sie zog den langsam aus seiner Starre erwachten Studenten mit sich.
Als sie um die nächste Ecke rannten, hörten sie Filurion hinter sich
rufen:
»Nehmen Sie hinter dem Abgrund den ⦠Gang!«
»Welchen Gang?«, schnaufte Theodor. Das entscheidende Wort war in
einem lauten, entsetzlichen Fauchen untergegangen.
»Keine Ahnung«, sagte Daumenschraube. »Sehen wir dann.«
Plötzlich waren rechts und links die Wände verschwunden. Im letzten
Augenblick erkannte der Student, dass nach wenigen Metern auch der Boden
aufhörte. Der Strahl seiner Laterne fiel ins Nichts.
Schwer atmend stand er am Rand der pechschwarzen Tiefe.
»Was jetzt?«, fragte Leutnant
Daumenschraube. »Hier geht es nicht weiter.«
»Doch. Hier müsste irgendwo â¦Â«
Theodor suchte den groÃen dunklen Raum mit der Laterne ab.
Tatsächlich: Da war sie, so wie der Student es im âºLehrbuch der
Phantastik, (neueste Auflage)â¹ gelesen hatte:
Â
»Am Ohnendlichen Abgrund aber stehet das Bildnis der
Mondgöttin Namiel mit ihrem Himmelswagen, welchen die acht Nachtfalter
ziehen.«
Hätte Theodor nicht so unter Stress gestanden, er hätte
sich vielleicht etwas mehr Zeit genommen, das Standbild andächtig zu
betrachten. Das Licht seiner Laterne glitt über feinsten weiÃen Marmor. Die
Nachtfalter waren so detailliert gearbeitet, dass es den Anschein hatte, als
wären sie lebendig. Fast schien es Theodor, als bewegten sich ihre Flügel, die
so dünn waren, wie es gewöhnlicher Marmor eigentlich nicht erlauben sollte,
leicht im schwachen Luftzug, der aus den Tiefen des Unendlichen Abgrundes
wehte.
Auf dem Himmelswagen stand Namiel, die Mondgöttin, den Blick stolz
nach oben gerichtet. Ein silbernes Diadem mit einem groÃen milchig weiÃen
Edelstein prangte auf ihrer Stirn.
»Also«, murmelte Theodor, sich nachdenklich das Kinn reibend,
»wie war es noch:
âºWillst du das tiefe Dunkel überwinden
Musst Verborgenes du zuerst finden â¦â¹Â«
Dies war der Beginn eines Merksatzes, den Theodor für die Klausur
über das Labyrinth hatte auswendig lernen müssen â richtiger gesagt, hätte
auswendig lernen sollen.
Er wiederholte mehrmals die ersten beiden Zeilen des Gedichtes, in
der vergeblichen Hoffnung, dass sich dadurch der Rest vielleicht automatisch
einstellte:
»Willst du das tiefe Dunkel überwinden/ Musst Verborgenes du zuerst
finden ⦠Willst du das tiefe Dunkel überwinden/ Musst Verborgenes du zuerst
finden â¦Â«
Pure didaktische Ironie bewirkte, dass er sich in diesem Moment
fotografisch genau an den von Professor Welk korrigierten Prüfungsbogen der Klausur
erinnerte:
Schreiben Sie den Merksatz für die
geheime Brücke über den Unendlich Tiefen Abgrund auf.
Darunter las er in seiner eigenen, kleinen und krakeligen Schrift:
Möchtest du Willst du die tiefe Schlucht
Willst du das tiefe Dunkel
Weitere Kostenlose Bücher