Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
nichts mehr denken. Sie wusste nichts mehr. Der Krieg in der Spiegelwelt war nur noch ein unerträgliches Rauschen in ihrem Gehirn. Aber sie hielt sich fest. Als sie schon längst jede andere Wahrnehmung verloren hatte, hielt sie sich immer noch am Rahmen des Spiegels fest. Sie durfte nicht fallen. Sie musste den Spiegel durchlässig halten.
Gerald beschloss, den direkten Weg nach oben zu nehmen. An dem Rohr, dessen Klappern ihn ursprünglich angelockt hatte, kletterte er aufwärts und bewegte sich durch die Decke, die ebenso dick und massiv war wie die Wand, die Gerald durchquert hatte, um die geheimen Räume zu betreten. Oberhalb der Decke fand sich Gerald im finsteren Labyrinth wieder, durch dessen Mauern er immer weiter nach oben stieg, bis er an die Erdoberfläche kam.
Hier gelangte er auf den weiten, großen Platz, der jedoch ganz anders aussah, als er ihn zurückgelassen hatte. Es mochte am veränderten Licht liegen, das nun Schatten warf, die es vorher nicht gegeben hatte. Es waren aber auch die meisten der Engelwesen verschwunden. Gerald sah zum Himmel empor und verstand plötzlich, warum ihm der Platz nicht mehr so seelenlos und leer vorkam wie auf dem Hinweg. Der Himmel hatte aufgehört, grau zu sein. Einzelne Sterne blinkten jetzt in kristallklarer Schwärze.
Sie blitzten auf und erloschen, immer und immer wieder. Es dauerte eine Weile, bis Gerald begriff, warum: Die Engelwesen flogen in riesigen Schwärmen hoch oben am Himmel herum. Gerald hörte ihre Flügelschläge – es klang wie Wind, der die Blätter riesenhafter Bäume zum Rauschen bringt. Dort, wo die Engel waren, verdunkelten sie die Sterne. Dort, wo sie verschwanden, tat sich ein funkelndes Meer auf, ein glitzernder Himmel von atemberaubender Klarheit und Schönheit.
Gerald konnte aber nicht ewig dort stehen und schauen. Er war unangreifbar und obwohl er sich zwischendurch hatte erholen können, war er nicht so stark, wie er es noch am Morgen gewesen war. Er musste zurück zur Tür, so schnell wie möglich.
Es war von dieser Seite des Gebirges aus nicht so leicht, den Durchlass wiederzufinden, und die Suche danach kostete ihn wertvolle Zeit. Doch es war zu gefährlich, zwischendurch greifbar zu werden und einen Atemversuch zu wagen. Er konnte zwar erkennen, dass auch in diesen Teil der Welt die Farbe zurückgekehrt war, doch über die Zusammensetzung der Luft sagte das nichts aus. Davon abgesehen kreisten zahllose Schwärme von Lieblosen im Himmel und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn entdeckten, wenn er sichtbar wurde, war sowieso zu groß.
Er blieb also unangreifbar, fand auch endlich den Durchlass, doch merkte, nachdem er ihn durchquert hatte, dass seine Kräfte rapide schwanden. Auf halbem Weg zur Tür musste er einsehen, dass er es nicht schaffen würde. Er musste seine Geschwindigkeit drosseln, weil er sonst aus seinem Zustand herausgefallen wäre, und es war unvermeidlich, dass er an die Erdoberfläche stieg. Wenn er nämlich im Inneren der Erde greifbar wurde, brachte ihn das ganz sicher um.
Er stieg also auf und sah, dass er die Ausläufer der Stadt erreicht hatte, die er am Anfang seiner Erkundungsgänge immer durchsucht hatte. Die Stadt mit der Bibliothek und den schwarzen Büchern. Ebenso wie die Panzerstadt und das Gebirge zeigte sich auch die Stadt wie verwandelt im Licht der Sterne. Sie war nicht mehr schwarz. Dennoch wirkte sie gespenstisch in ihrer Leere und Verlassenheit. All die Bäume, Hecken und Sträucher, die unverändert ein ganzes Zeitalter überstanden hatten, solange der Himmel grau gewesen war, zerfielen nun mit jedem Windstoß, den die fliegenden Engelwesen erzeugten, mehr und mehr zu Staub. Nur die Rümpfe der Bäume blieben stehen, kahl wie im Winter.
Gerald beschloss, einen geschützten Ort zu suchen, an dem ihn die Lieblosen nicht entdecken würden, wenn er sichtbar wurde. Dass ihm nichts anderes übrig blieb, schmerzte ihn. Aber so war es nun mal und es ließ sich nicht mehr ändern. Wenn er jetzt sein Leben aufs Spiel setzte, musste er darauf zählen, dass das Mondpapier wirkte. Viel Hoffnung, dass er hier atmen konnte, hatte er nämlich nicht.
Er flüchtete sich in einen ehemaligen Laden, der einmal Lebensmittel verkauft hatte. Die Auslagen waren immer noch ansehnlich, Früchte, Brot und Flaschen mit Flüssigkeiten. Hinter dem Verkaufstresen ging Gerald in die Hocke, prüfte noch einmal die Umgebung, ob er wirklich alleine war, und gab seine Unangreifbarkeit auf.
Das Erste, was er bemerkte,
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