Feuersuende
war es inzwischen gelungen, sich ganz aus dem Wasser zu ziehen. Am ganzen Leibe zitternd versuchte er, sich aufzurichten, brach aber wieder zusammen und lag wie ein Haufen nasser Kleider auf der Eisdecke. Lokan, der die Szene weiter aufmerksam verfolgte, konnte sehen, wie der Überlebende sich bald wieder berappelte und liegend langsam zum Rand des Loches im Eis vorwärtsrobbte. Im Wasser war eine zweite Gestalt aufgetaucht, die sich an den rettenden Rand des Eislochs herankämpfte. Der Mann auf dem Eis streckte helfend die Hand aus. Jetzt sah Lokan, dass der andere etwas, das aussah wie ein Bündel, gegen die Brust gepresst krampfhaft festhielt, während er sich mit der anderen Hand versuchte, am Eis festzuhalten.
„Verdammt“, fluchte Lokan in sich hinein, als er erkannte, was dieses Bündel war. Es war ein Kind.
Urplötzlich erwachte etwas in ihm, eine menschliche Seite, von der er angenommen hatte, dass sie längst in ihm ausgemerzt war. Unwillkürlich machte er einen Schritt vorwärts, dann zögerte er. Er verstand sich selbst nicht mehr. Warum sollte er sich um diese versprengten Überbleibsel von Menschenfreundlichkeit und Mitgefühl scheren? Aber das Kind …
Einen Moment lang stand er wie angewurzelt da und ließ die Katastrophe auf sich wirken, die sich vor seinen Augenabspielte, wobei er sich einredete, dass sie ihn kaltließ. Dann stürmte er Hals über Kopf die Uferböschung hinab zum Fluss, ohne eigentlich zu wissen, was er dort unten sollte oder warum er das überhaupt tat.
Noch während er mit übermenschlicher Geschwindigkeit und dabei unglaublicher Sicherheit über die spiegelblanke Eisfläche eilte, zog er sich den Mantel aus. Am Eisloch angekommen, packte er den Mann an seinem freien Handgelenk und zog ihn ohne Mühe aus dem Wasser.
„Zieh deine nassen Sachen aus und auch die von dem Jungen und legt euch den Mantel über. Los, beeil dich“, fuhr Lokan den Geretteten an. Welchen Sinn hatte es, ihn aus dem eisigen Wasser zu ziehen, wenn er und das Kind dann gleich darauf erfroren? Der Junge war kreidebleich, seine Lippen blitzblau. Die Augen waren geschlossen. Aber er atmete noch, wenn auch nur schwach.
Für einen Wimpernschlag streifte Lokan eine Erinnerung an einen anderen Jungen, völlig durchnässt und bleich wie der Tod, der aber anders als dieser zierliche, dunkle Typ eher füllig und blond gewesen war und Sommersprossen auf der Nase hatte. Ein kleines Boot erschien vor seinem geistigen Auge, ein See mit einem wolkenverhangenen, bleiernen Himmel darüber. Lokan hatte seitdem immer eine Abneigung gegen Boote verspürt. Im nächsten Moment war die Erinnerung verschwunden, begraben unter anderen, angenehmeren Erinnerungen.
Die Finger des Mannes waren steif gefroren, sodass er kaum imstande war, dem Jungen das Hemd aufzuknöpfen. Ungeduldig fuhr Lokan dazwischen und riss ihm in einer schnellen Bewegung das Hemd vom Leib und warf es fort. Dasselbe tat er mit dem Erwachsenen. Dann legte er das Kind in die Arme des Mannes und deckte beide mit seinem wärmenden, trockenen Mantel zu. Um die nassen Hosen der beiden konnte er sich jetzt nicht kümmern.
Anschließend zog er seine Anzugjacke aus und gab sie dem Mann, der sich als Erster aus dem Fluss gerettet hatte. Es wareine Eingebung. Die Erwachsenen waren ihm eigentlich egal. Es ging ihm nur um das Kind.
„Rückt dicht zusammen, so könnt ihr euch gegenseitig wärmen“, forderte er die Männer auf, die seinem Rat auch gleich folgten.
Erst jetzt wurde Lokan bewusst, dass er die Sterblichen sein Gesicht hatte sehen lassen. Das war zwar grundsätzlich nicht unzulässig, wurde aber trotzdem von den Seelensammlern nach Möglichkeit vermieden. In diesem Fall war es nun passiert und nicht mehr rückgängig zu machen.
Lokan begriff noch immer nicht, was er hier eigentlich tat, warum er eingegriffen hatte und jetzt hier im schneidenden Januarwind in Hemdsärmeln herumstand. Auch wenn ihm die Kälte nichts anhaben konnte, empfand er sie doch als verdammt unangenehm. Sein Blick fiel auf das leichenblasse Kind, das sich bis jetzt noch immer nicht gerührt hatte, und eine Vorahnung beschlich ihn. Er sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass ihn die Ereignisse dieses Tages noch lange verfolgen sollten.
Blödsinn. Die Lebensspanne dieser Sterblichen war kaum mehr als ein einzelner Schlag seines unsterblichen Herzens. Sie würden altern, später sterben, und er, Lokan, war dann noch immer
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