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Feuersuende

Feuersuende

Titel: Feuersuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eve Silver
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derselbe. Welcher Sterbliche konnte auf sein Dasein schon Einfluss nehmen? Wer von ihnen konnte ihm ernsthaft schaden? Er war ein Seelensammler, Sohn Sutekhs. Er war nicht unverwundbar, und wenn man ihn verletzte, blutete er wie andere und musste wie sie Schmerzen erleiden. Aber seine Wunden heilten schnell. Alle. Er würde niemals sterben.
    Trotz des trockenen Mantels froren die drei noch immer erbärmlich. Der Junge gab ein leises Stöhnen von sich. Seine Lider zuckten. Dann öffnete er die Augen und richtete sich mit einem Ruck auf, indem er versuchte, den schweren Mantel beiseitezuschieben. Er starrte wie gebannt auf das schwarze Loch in dem bläulich-weißen Eis und versuchte, sich von den Männern, die neben ihm hockten, freizumachen.
    „M-m-meine … B-b-brüder.“ Die Worte aus seinen zitternden Lippen waren kaum zu verstehen. Lokan jedoch hatte den Jungen verstanden. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Blaue Augen, wasserblau und um die Pupille herum mit einem dunkleren Rand außen. Und ein merkwürdiges Leuchten, als ob ein Licht hinter diesen Augen brannte. Furcht und Verzweiflung sprachen aus seinem Blick, aber Lokan entdeckte darin noch etwas anderes. Schuld.
    Es fiel Lokan nicht schwer nachzuvollziehen, was in dem Jungen vorging. Er kannte dieses Gefühl, dieses Schuldgefühl, das geblieben war, als sein Bruder sterben musste, während er überlebte.
    Einige Jahre später, nachdem er von Sutekh in die Unterwelt geholt worden war, erfuhr Lokan, dass sein großer Bruder Richard, der mit ihm gespielt hatte, der sein Vorbild gewesen war und von dem er so viel gelernt hatte, nicht sein leiblicher Bruder war und dass er drei „richtige“ Brüder hatte: Dagan, Alastor und Malthus, Seelensammler wie er selbst.
    Dass er drei Brüder hinzugewonnen hatte, von denen er vorher nichts wusste, hatte ihn über den Verlust von Richard nicht hinwegtrösten können. Aber gerade der Verlust des einen hatte ihm den Wert brüderlichen Zusammenhalts deutlich gemacht. Längst war er den drei „neuen“ Brüdern so verbunden, als sei er mit ihnen groß geworden. Alles würde er für sie tun. Und er wusste, dass sie alles für ihn tun würden.
    Zu sehen, wie der Junge sich gegen die Arme der Erwachsenen, die ihn hielten, um ihn zu wärmen, wehrte und versuchte freizukommen, tat Lokan in der Seele weh. Er wusste, was los war. Der Kleine wollte zurück ins eiskalte Wasser, um seine Brüder zu suchen. Wieder verfluchte Lokan sich selbst. Er hatte mit den Schicksalen der Sterblichen nichts zu schaffen, auch nicht mit dem eines Kindes. Und doch berührte es ihn.
    „Ich werde sie finden.“
    Der Junge sah ihn an, und für eine Sekunde war alles um sie herum verschwunden – die Schreie, der Lärm, der Rauch, dieKälte. Für eine Sekunde waren sie beide allein an einem ganz anderen Ort.
    „Versprich es“, sagte der Junge mit einer Bestimmtheit, die gar nicht zu einem Kind passte.
    „Ich verspreche es.“ Was Lokan nicht versprechen konnte, war, dass er die Brüder des Jungen lebend fand.
    Der eisige Nordwind erhob sich erneut in voller Stärke. Mit einem unwilligen Knurren wandte Lokan sich ab und tauchte kopfüber in die dunklen Fluten. Mit kräftigen Schwimmzügen gewann er rasch an Tiefe. Die Kälte schnitt ihm bis auf die Knochen ins Fleisch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur einer der Sterblichen in dem Waggon überlebt haben könnte. Keines dieser zerbrechlichen Wesen war imstande, diesen Temperaturen zu trotzen.
    Obgleich es noch heller Nachmittag war, herrschte hier unter dem Eis eine fast undurchdringliche Finsternis. Trotzdem konnte Lokan durch die Abteilfenster leblose Körper erkennen, die im Wasser trieben, das in den Waggon eingedrungen war. Es gab welche, die tatsächlich noch am Leben waren. Eine Frau, ein Mann und zwei kleine Mädchen reckten an das Gepäcknetz geklammert ihre Hälse in eine Luftblase, die ihnen der Zufall in ihrem Abteil gelassen hatte. Von den Brüdern des geretteten Jungen keine Spur.
    Lokan wollte sich wieder abwenden, zögerte jedoch. Verdammt noch mal. Genau das war der Grund, warum er Kindern meist aus dem Weg ging. Bei ihnen wurde er regelmäßig schwach. Auch hier. Die Erwachsenen hätte er, ohne mit der Wimper zu zucken, ihrem Schicksal überlassen, aber die beiden Mädchen …
    Er schlug das Glas des Abteilfensters ein, ohne sich um die Schmerzen zu kümmern, die ihm die Scherben zufügten, die ihm ins Fleisch schnitten und blutende Wunden hinterließen.

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