Feuerteufel: Roman (German Edition)
kindliche Form der Beine war völlig verschwunden, die Knie, die aus den Shorts herausragten, wirkten fast sehnig.
Als Magdalena die Hand auf seinen Oberschenkel legte, sah er vom Nintendo auf und lächelte.
»Wie schön, dich wiederzusehen«, sagte sie. »Ich hatte richtig Sehnsucht.«
»Ja, ich auch. Superduperviel Sehnsucht«, antwortete er über das Spiel gebeugt.
Sie kniff ihn ein wenig in den Oberschenkel.
»Hör auf«, sagte er und lachte. »Wenn du das machst, verliere ich.«
In den ersten Stunden hatte er ununterbrochen geredet: Über den Segeltörn und über Gustav, der am selben Tag Geburtstag hatte wie Papa, und dass Märta nachts so viel geschrien hatte, dass keiner schlafen konnte, und dass Ebba eine Kreuzotter mit einem Spaten erschlagen hatte, obwohl man das eigentlich nicht darf. Das Puzzle von seinem Sommer, das Magdalena aus ihren kurzen Telefongesprächen zu legen versucht hatte, bekam endlich Farbe und Form.
»Ich finde es komisch, dass man gefährliche Tiere nicht töten darf, findest du nicht auch?«
»Im Grund ja, aber gefährliche Tiere müssen auch leben dürfen. Die Schlangen werden in der Natur gebraucht.«
Magdalena sah auf die Uhr. Im Laufe des Tages hatte sie mit der Übelkeit ganz gut umgehen können, und jetzt bekam sie langsam Hunger.
»Sollen wir heute Pizza essen?«, fragte sie, selbst erstaunt über ihr Verlangen nach Salz und geschmolzenem Käse.
»Ja, von mir aus«, sagte Nils.
Er klang so unbekümmert. Vielleicht machte er sich doch nicht so viele Sorgen über den Schulbeginn, wie sie gedacht hatte. Sie strich ihm kurz über das Haar und versuchte, nicht an die zurückliegenden anstrengenden Monate zu denken, aber die Erinnerung holte sie doch ein.
Irgendwann im März hatte Magdalena zum ersten Mal gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Nils hatte beim Morgenkreis in der Vorschule einen Zahn verloren. Als sie ihn am Nachmittag im Hort abholte, hatte er zunächst seine kleine Trophäe gezeigt, die er in einer zusammengeknoteten Tüte aufbewahrt hatte. Doch am Abend, als er den Zahn für die Zahnfee in ein Wasserglas hatte legen sollen, hatte er plötzlich traurig ausgesehen, und sein Kinn hatte gezittert, wie immer kurz bevor er anfing zu weinen.
»Keiner in der Klasse wollte meinen Zahn sehen.«
»Wie meinst du das?«, hatte Magdalena gefragt.
»Wenn andere einen Zahn verlieren, dann wollen immer alle gucken. Aber als ich gesagt hab, ›ihr dürft ihn angucken, wenn ihr wollt‹, da ist keiner gekommen.«
Magdalena hatte ihn zu trösten versucht und gesagt, er solle sich keine Gedanken darüber machen, seine Klassenkameraden seien sicher müde gewesen, schließlich war das beim Morgenkreis. Doch sowie sie die Tür zu Nils’ Zimmer zugemacht hatte, waren die Tränen gekommen. Die Intensität des Gefühls über etwas, das vielleicht nur ein Zufall war, hatte sie erschreckt.
Im Laufe des Frühlings war Nils immer stiller geworden. Magdalena versuchte, seine Körpersprache und die langsamen Schritte zu deuten, wenn sie ihn morgens zur Schule brachte, seine ausweichenden Antworten auf ihre Fragen, wenn sie ihn abholte, und das Achselzucken, wenn sie ihn fragte, ob er am Wochenende mit jemandem spielen wollte.
Vielleicht lege ich auch zu viel da rein, hatte sie sich selbst gesagt. Kinder sind unterschiedlich, und manche sind gern allein. Vielleicht ist er ganz und gar nicht unglücklich.
Doch eines Tages, als sie ihn im Hort abholte, hatte einer der Erzieher sie beiseitegenommen und erzählt, dass »etwas« passiert sei. Drei Jungs hatten während der Pause mit Tannenzapfen nach Nils geworfen, und Nils sei wütend geworden und habe mit Steinen zurückgeworfen. »So was passiert manchmal einfach. Wir haben versucht, das zu klären, aber ich möchte einfach, dass Sie Bescheid wissen, falls er zu Hause etwas sagt.«
Nach dem Abendessen hatte Magdalena erzählt, was der Erzieher zu ihr gesagt hatte.
»Die sind einfach so blöd«, hatte er gesagt.
»Wer ist blöd?«
»Eigentlich alle.«
»Alle?«
Nils nickte, und alles fing an sich zu drehen. Mein liebes Kind.
»Aber sag mal«, begann sie und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Was machen sie denn?«
»Wenn ich frage, ob ich mitspielen darf, dann darf ich das nie.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Magdalena sich gewünscht, dass Ludvig da wäre, dass sie zu zweit wären und sich abwechseln könnten, stark zu sein und die richtigen Sachen zu sagen.
Magdalena schielte zu Nils hinüber, der sich immer noch
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