Fey 09: Die roten Klippen
Constantia. Um die Stadt zu erreichen, mußten Reisende einen der Pässe benutzen, zum Beispiel jenen, der über eine oben abgeflachte Kuppe führte. Dieser Hügel war im Norden durch den Cardidas von den Blutklippen abgeschnitten, der sein Bett in das Gelände gegraben hatte und früher einmal wahrscheinlich den ganzen Talkessel, in dem heute Constantia lag, ausgefüllt hatte. Von seiner Kuppe aus konnte man die ganze Stadt überblicken.
Aber warum sollten die Fey die Stadt beobachten und nicht angreifen?
Vor zwei Wochen hatten sie Jahn im Morgengrauen überfallen. Aber vor zwanzig Jahren hatte sich ihr Angriff einen ganzen Vormittag lang hingezogen.
Matthias erhob sich so hastig, daß er sich an der Tischkante festhalten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Marly streckte die Hand aus, aber Matthias machte eine abwehrende Kopfbewegung.
»Hast du wirklich nichts gesehen?« wandte er sich an Denl. Die Rückseite des Hauses zeigte nach Westen.
»Auf dem Hügel hab ich nich nachgeschaut«, antwortete der Mann, ging aber zur Hintertür, als sei er plötzlich neugierig geworden.
Matthias war mehr als neugierig. Er fühlte Panik in sich aufsteigen. Diesmal erwischten ihn die Fey in denkbar schlechter Verfassung. Schon in gesunden Zeiten hatte er nicht viel gegen sie ausrichten können, aber ausgerechnet jetzt hatte er überhaupt keine Kraft mehr.
Er ging ebenfalls zur Tür. Tri folgte ihm, aber eher aus Sorge um ihn, als um sich selbst zu vergewissern. Jedenfalls hatte Matthias diesen Eindruck. Sie blieben auf den Trittsteinen stehen, die zum Zaun führten. Denl war ein paar Schritte vor ihnen stehengeblieben und starrte mit offenem Mund zur Hügelkuppe hinauf.
Auch Matthias hob den Blick.
Der Hügel sah höher aus als sonst, und seine Oberfläche schien sich zu bewegen. Matthias wünschte sich schärfere Augen. Marly war hinter ihn getreten und lehnte sich an ihn.
»Was is’n das?« fragte sie.
»Menschen«, sagte Tri. »Wenn ihr lange genug hinschaut, seht ihr Metall in der Sonne funkeln.«
»Woher weißt du, daß es Fey sind?«
»Wer sollte es sonst sein?« gab Tri zurück. »Wir hätten davon erfahren, wenn so viele Menschen die Stadt gleichzeitig verlassen hätten. Ihr habt selbst gesagt, daß es auf der Insel von ihnen wimmelt, also können es auch nicht Nicholas’ Leute sein.«
Matthias kniff die Augen zusammen. Er trat noch ein paar Schritte vor. Denl zitterte wie Espenlaub.
»Was glaubt ihr, wie viele es sind?« flüsterte er.
»Hunderte«, meinte Tri. »Der Hügelkamm ist lang.«
»Sehr lang«, stimmte Marly zu, »jedenfalls soweit ich mich erinner. Vielleicht sinds noch mehr als hundert. Vielleicht tausend.«
Tausend. Warum sollte der Schwarze König eine so riesige Streitmacht in diese entlegene Gegend schicken? Worauf hatte er es abgesehen?
Vielleicht war dies der letzte noch nicht eroberte Winkel der ganzen Insel.
Jetzt überlief auch Matthias ein Schauder.
»Sieht gar nich gut aus, was?« kommentierte Marly.
Matthias schüttelte den Kopf und ignorierte das leichte Schwindelgefühl, das ihn überkam. »Noch haben sie nichts unternommen. Das bedeutet, daß uns noch etwas Zeit bleibt.«
Er wandte sich ab und ging zurück ins Haus. Er mußte sich dringend hinsetzen. Marly und Tri kamen nach. Denl blieb wie angewurzelt stehen und konnte den Blick nicht von der Hügelkuppe lösen.
»Tut mir echt leid, Heiliger Herr«, murmelte er zerknirscht. »Ihr habt mich nachsehn geschickt, aber ich hab sie nich bemerkt.«
Matthias seufzte. Er würde Denl wohl nie abgewöhnen können, ihn mit »Heiliger Herr« anzureden, wie wenig er diesen Ehrentitel auch verdiente. Genausowenig wie die Ehrfurcht und Scheu, die Denl ihm gegenüber an den Tag legte. Oder die Beschämung, die Denl jetzt empfand, da er seinen Fehler zugeben mußte.
»Es ist nicht deine Schuld, Denl«, beschwichtigte Matthias. »In dieser Entfernung hatte auch ich die Fey nicht erwartet.«
Hatten die Fey etwa die seltsame Übelkeit ausgelöst? Aber das war unwahrscheinlich. So etwas hatten sie noch bei keiner Invasion gemacht. Warum also hier? Matthias wußte nicht einmal, ob sie derartige Fähigkeiten besaßen. Er ahnte nicht, wo die Grenzen ihrer Macht lagen.
Oder die Grenzen seiner eigenen Macht.
Er betrat die warme Küche. Nach der kalten Luft war die Hitze angenehm. Der Anblick des Hügels hatte Matthias so gefesselt, daß er gar nicht gemerkt hatte, wie sehr er fror.
Auch Tri kam herein und setzte sich an den
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