Fey 09: Die roten Klippen
erschöpft. In ihr schmales Gesicht hatten sich tiefe Falten gegraben, die Augen lagen tief in den Höhlen. Sie hielt die Flügel eng an den Rücken gepreßt, hockte ganz vorne auf der Kante des Stuhls, den Rugad ihr zugewiesen hatte, und starrte aus dem Fenster auf das Feuer, das noch immer unkontrolliert brannte.
Mit nur ihr und Rugad darin wirkte das Turmzimmer leer und verlassen. Rugad wußte, daß das Gespräch nicht einfach werden würde, ein Gespräch, bei dem Gazes Loyalität auf dem Prüfstand stand.
Er wußte auch, daß er rasch vorgehen mußte.
»Ich möchte, daß du mir etwas beschreibst«, sagte er.
Ihre Gestalt versteifte sich. Die Flügel streiften die Stuhllehne, woraufhin sie sie noch enger an sich zog.
»Diese Höhle, in der du meinen Urenkel gesehen hast. Beschreibe sie mir.«
Sie sah ihn an und senkte dann den Blick. »Ich habe dir schon alles gesagt, was ich weiß«, sagte sie.
»Du hast mir Boteens Botschaft ausgerichtet. Aber du bist selbst bei dieser Höhle gewesen. Beschreibe sie mir.«
Sie hielt die Augen niedergeschlagen.
»Er hat dir befohlen, es nicht zu tun, habe ich recht?«
Ihr linker Flügel zitterte, und sie riß ihn an sich, als hätte er sie verraten.
»Stimmt das?«
Sie biß sich auf die Lippe.
»Und jetzt gibst du mir aus Loyalität gegenüber Boteen keine Antwort? Oder bist du mir gegenüber nicht mehr loyal? Hegst du insgeheim selbst den Wunsch nach Macht?«
Nach diesen Worten hob sie den Kopf. Rugad hielt das triumphierende Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte, gerade noch zurück. Er wußte, wie er an seine Leute herankam.
»Er wollte dir keinen falschen Bericht zukommen lassen«, sagte sie. »Er ist jetzt dort und sieht das, was ich gesehen habe.«
»Einen falschen Bericht?«
»Er ist der Meinung, mit der Höhle habe es etwas Besonderes auf sich.« Dann weiteten sich ihre Augen. Offensichtlich fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut.
Rugad hingegen empfand die Situation als höchst angemessen. Er verhörte sie, während er auf Selia wartete, und bevor er sich um seinen Plan kümmern konnte, mußte er noch ein paar andere Dinge erledigen. Es war gut, daß er mit Kendrad gesprochen hatte. Sie hatte ihm geholfen, seine Gedanken zu bündeln. Jetzt zeigten sie wieder in eine Richtung, und er fühlte sich zum ersten Mal seit dem Ausbruch dieses Feuers als Herr der Lage.
»Etwas Besonderes?« fragte er. »Wie kommt er darauf?«
»Aufgrund meiner Beschreibung«, flüsterte sie und senkte abermals den Kopf. Sie wußte, daß sie in der Klemme saß. Und sie wußte, daß ihre Loyalität Rugad gehörte, nicht Boteen. Nur daß sie dieses Mal mit Boteens vorsichtigem Verhalten übereinzustimmen schien.
»Dann möchte ich diese Beschreibung auch hören«, sagte Rugad zum dritten Mal. Er würde es so oft wiederholen, bis sie es ihm sagte.
Gaze schloß die Augen und atmete tief durch. Dann sagte sie: »In der ganzen Gegend dort existieren starke magische Strömungen. Sie sind so stark, daß ich beinahe einer zum Opfer gefallen wäre. Beinahe wäre ich in eins von diesen Steinschwertern geflogen. Sie sind riesengroß und stecken direkt im Felsen. Genau an jener Stelle sind die Strömungen besonders heftig, wie Strudel in einem reißenden Fluß, und ich dachte schon, ich würde mich an einem der Schwerter aufspießen …«
Ihre Stimme verebbte.
Rugad war ganz Ohr. Irgend etwas war geschehen, was Gaze schrecklich verwirrte. »Ja?« sagte er.
»Dann erschien meine Großmutter neben mir. Sie zog mich weg von den Schwertern, und plötzlich war ich in der Höhle. Sie küßte mich auf die Wange, sagte mir, ich würde bis in alle Ewigkeit geliebt und niemals vergessen werden, und dann führte sie mich eine steinerne Treppe hinab.«
»Deine Großmutter?« fragte Rugad ungläubig. Auf diesem Feldzug hatte er keine Irrlichtfänger dabei, die alt genug waren, um Gazes Großmutter zu sein. »Was hast du noch gesehen?«
»Vergib mir, Herr«, sagte sie, »aber da ist noch etwas, das du wahrscheinlich nicht weißt. Meine Großmutter ist tot. Sie starb auf Nye. Sie wurde ermordet.«
Rugad spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Das war die Bestätigung, auf die er gewartet hatte. »Bist du sicher, daß du deine Großmutter gesehen hast?«
Gaze nickte kläglich.
Rugad beugte sich vor. »Hat sie dich geliebt?«
»Ich war alles, was ihr an Familie geblieben war«, flüsterte Gaze.
Ein Schauer überlief ihn. »Wer hat sie ermordet?« fragte er.
»Das
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