Filmriss
und ließ alles golden glänzen. Vor zehn ist in der Stadt noch nichts los. Logisch, die meisten Geschäfte haben ja noch geschlossen.
Man kann um diese Zeit aber gut nachdenken. Klar, dass ich dafür die Schule sausen lassen musste. Meine Tasche pfefferte ich ins Gepäckfach am Bahnhof und pflanzte mich auf eine Bank, ließ die Welt an mir vorbeiziehen wie einen trägen, breiten Fluss.
Zuerst war es mehr ein leises Plätschern, aber nach einer Dreiviertelstunde kam langsam ein bisschen Schwung in die Bude. Aufgetakelte Verkäuferinnen mit dunklen Schatten unter den Augen tauchten wie aus dem Nichts auf, öffneten Geschäftstüren, schoben Warenständer hinaus. Alles war noch superfriedlich, beinahe schön, wie frischer Schnee auf dünnem Eis.
Das sind so Momente, da kann der Tag noch richtig gut werden. Ich hatte endlich Zeit für meine Gedanken.
Gestern Abend traf ich Marlon allein in der Hütte. Das war nicht unbedingt Zufall, denn ich wusste, dass er da war, und bin nur deshalb hingegangen. Benny hatte was anderes vor und Birte war ja noch krank.
Zuerst ist mein Plan aufgegangen. Plötzlich war es so, als gäbe es Birte gar nicht. Von Anfang an waren Marlon und ich uns total nah, so nah wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
Wir quatschten ein bisschen und sind dabei nach und nach immer näher aneinandergerückt. Ich hatte das vielleicht nicht bewusst geplant, aber natürlich hatte ich es mir gewünscht. Ich glaub, es hätte nicht viel gefehlt und wir hätten miteinander geknutscht wie früher. Aber dann meinte er wie aus heiterem Himmel, er hätte noch was anderes vor. Und auch wenn er es nicht direkt aussprach, war mir doch sofort klar, dass er Birte treffen würde. Er war plötzlich wieder ganz verändert.
»Das wäre nicht gut«, hat er gesagt.
»Von mir aus.« Ich versuchte die Sache runterzuspielen. »Ist mir auch egal.«
»Okay.« Er war richtig erleichtert. »Das ist das Beste.«
Gefühlt hab ich in diesem Moment gar nichts. Ich war nicht mal sauer auf ihn.
Er ist dann abgehauen und ein paar andere aus dem Dorf rückten an. Mit denen hab ich noch abgefeiert und dabei das leere Gefühl im Bauch weggespült.
Deshalb hatte ich heute in der Passage auch irre Kopfschmerzen. Als sich plötzlich eine Hand von hinten auf meine Schulter legte, erschrak ich. Zuerst dachte ich, dass es nur Marlon sein könnte, der sich bei mir entschuldigen und mir endlich seine Liebe gestehen wollte. Aber die Hand war ölverschmiert. Und im Gegensatz zu Marlons schlanken Fingern waren es käseweiße Wurstfinger. Und noch eh ich bis drei zählen konnte, saß er auch schon neben mir, der ganze käseweiße, ölverschmierte Wursttyp: Karsten!
Der hatte mir grad noch gefehlt. Wenn ich auf irgendjemanden auf der ganzen großen, weiten Welt keinen Bock hatte, dann auf Karsten. Spätestens bei seinem blöden Grinsen wusste ich auch wieder ganz genau, warum.
»Na, Schule ausgefallen?«
Natürlich ist Rauchen in der Passage streng verboten, aber er steckte sich trotzdem eine an.
»So ähnlich.«
Ich rückte ein Stück von ihm ab und inspizierte unauffällig meine Schulter. Meine weiße Jacke ist noch ziemlich neu. Zum Glück hatte seine Ölpfote keinen Fleck hinterlassen.
Ihm schien nichts mehr einzufallen. Er saß einfach neben mir, qualmte und glotzte in der Gegend rum. Ich fragte mich, was er von mir wollte. Seit dem Highlight im Autobahn-Raumschiff ist der Abstand zwischen uns eher noch größer geworden.
»Die Tour im Jaguar neulich war doch geil, oder?«
»Geht so«, sagte ich mit betont wenig Begeisterung. »Und was treibt dich hierher am frühen Morgen?«
Er habe gerade einem Kunden das Auto zurückgebracht, erzählte er. In diesem Moment kam ein Security-Typ in schwarzer Uniform und verlangte, dass er die Zigarette ausmachte. Karsten zögerte kurz, aber dann parierte er zum Glück. Ich hatte keine Lust, dass der hier noch Stress verursachte.
Ich wollte einfach nur wieder mit meinen Gedanken allein sein.
»Dann musst du ja sicher ganz schnell wieder zurück«, sagte ich zu Karsten. »In der Werkstatt können sie doch bestimmt nicht so lange ohne dich auskommen.«
Nachdem die Zigarette aus war, roch ich seinen Schweiß. Der Geruch stach in meine Nase und meinem Dröhnschädel tat er auch nicht gut, deshalb rückte ich noch etwas ab.
»Ein halbes Stündchen lässt sich aber schon noch rausschlagen«, meinte er. »So schnell kontrolliert mich keiner. Bin ja schließlich kein Azubi mehr.«
Er ist nicht nur ein Angeber
Weitere Kostenlose Bücher