Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
ich einen langen, dicken Knüppel in der Hand. Wenn er dann kommt, drehe ich mich herum und schlage ihm den Schädel ein.«
»Hm. Ja. Nun, das haben wir versucht. Aber wie gut unsere Tarnung auch ist, die Outislander scheinen stets zu wissen, wann wir ihnen einen Köder hinhängen, und hüten sich anzugreifen. Zugegeben, es ist uns gelungen, ein oder zwei der gewöhnlichen Angreifer zu täuschen, aber niemals die Roten Korsaren. Und das sind diejenigen, denen wir ans Leder wollen.«
»Warum?«
»Weil sie uns den meisten Schaden zufügen. Siehst du, Junge, wir sind daran gewöhnt, überfallen zu werden. Man könnte fast sagen, wir haben uns darauf eingerichtet. Man sät ein zusätzliches Tagwerk Getreide, webt einen zusätzlichen Ballen Stoff, zieht ein Stierkalb mehr auf. Unsere Bauern und Bürger versuchen immer, sich einen kleinen Vorrat anzulegen, und wird einmal jemandes Scheune angezündet oder geht im Tumult eines Überfalls ein Lagerhaus in Flammen auf, legen alle beim Neubau mit Hand an. Aber die Roten Korsaren kommen nicht mit Feuer und Schwert, weil es sie allein nach Beute gelüstet. Sie machen blindwütig alles dem Erdboden gleich, und der eigentliche Beutezug scheint für sie beinahe unwichtig zu sein.« Chade schwieg und starrte auf die Wand, als könne er darin hindurchsehen.
»Es ergibt keinen Sinn«, fuhr er nachdenklich fort, mehr zu
sich selbst. »Oder wenigstens keinen für mich erkennbaren Sinn. Es ist, als würde man eine Kuh schlachten, die jedes Jahr ein gutes Kalb bringt. Die Roten Korsaren verbrennen Getreide noch vor der Ernte und fackeln auch die Heuwiesen ab. Sie metzeln an Vieh nieder, was sie nicht mitnehmen können. Vor drei Wochen in Tornsby setzten sie eine Mühle in Brand und schlitzten die Säcke mit Korn und Mehl auf. Was gewinnen sie dadurch? Weshalb riskieren sie ihr Leben, nur um eine Spur der Vernichtung zu hinterlassen? Sie haben keinen Versuch unternommen, Land zu erobern und sich dort festzusetzen. Soweit wir wissen, besteht keine alte Fehde zwischen uns, so dass sie sich vielleicht für erlittenes Unrecht rächen wollten. Vor einem Dieb kann man sich schützen, aber dies sind willkürliche Mörder und Zerstörer. Tornsby wird nicht wieder aufgebaut, die Überlebenden besitzen weder den Willen noch die notwendigen Mittel. Sie sind weggezogen, einige zu Verwandten in anderen Dörfern, andere vermehren die Zahl der Bettler in unseren Städten. Ähnliches haben wir schon zu oft erlebt.«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Als er wieder aufblickte, galt seine Aufmerksamkeit allein mir. Das war seine besondere Fähigkeit: Er vermochte ein Problem so vollständig beiseitezuschieben, dass man hätte schwören wollen, er hätte es vergessen. Und als gäbe es für ihn jetzt nichts Wichtigeres, teilte er mir dann mit: »Du wirst Veritas begleiten, wenn er zu Lord Kelvar nach Guthaven reist.«
»Das weiß ich von Burrich. Aber er hat sich gewundert, und ich wundere mich auch. Was ist der Grund?«
Chade zog die Augenbrauen hoch. »Hast du dich nicht vor ein paar Monaten beschwert, Bocksburg wäre dir zu eng geworden und du wolltest mehr von den Sechs Provinzen sehen?«
»Schon. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Veritas mich deshalb mitnimmt.«
Chade schnaubte. »Als ob Veritas auch nur einen Gedanken daran verschwendete, wer zu seinem Gefolge gehört. Er ist ungeduldig und hat keinen Sinn fürs Detail, und daher mangelt ihm Chivalrics Genie im Umgang mit Menschen. Doch Veritas besitzt die Eigenschaften eines guten Soldaten, und auf lange Sicht betrachtet ist uns damit vielleicht besser gedient. Nein, du hast Recht. Veritas weiß nicht, weshalb du seinem Tross zugeteilt bist. Aber dein König weiß es. Er und ich haben gemeinsam darüber beraten. Bist du bereit, ihm nun langsam zurückzuzahlen, was er für dich getan hat? Bist du bereit, deinen Dienst für die Familie zu beginnen?«
Er sagte es so ruhig und schaute mir so offen ins Gesicht, dass es leicht war, ebenso ruhig zu fragen: »Werde ich jemanden töten müssen?«
»Unter Umständen.« Er bewegte sich etwas in seinem Stuhl. »Die Entscheidung liegt bei dir. Selbst zu entscheiden - das ist etwas anderes, als wenn einem gesagt wird: ›Das ist der Mann, und du musst es tun.‹ Das ist viel schwerer, und ich habe Zweifel, ob du schon so weit bist, diese Entscheidung zu treffen.«
»Werde ich je so weit sein?« Ich versuchte zu lächeln, aber es wurde ein verkrampftes Grinsen daraus, das sich in meinem Gesicht
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