Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
Vom Netzwerk:
kommst jetzt allein zurecht, Eselflüsterer«, sagte Asher.
    Sie hatten James Madison inzwischen erfolgreich aus dem Anhänger, hinein ins Kutschenhaus und hinunter in die geheimen Tunnel der unterirdischen Eisenbahn bugsiert. Er stand in einer der Arbeiterbaracken, angebunden an ein Feldbett, und tat sich an etwas Heu und einer Karotte gütlich. Cam versuchte derweil, eine mit Alufolie umwickelte Waffeltüte mit Haarklammern an seinem Pony zu befestigen, doch das Wunderhorn hing ständig schief.
    »Mist«, sagte sie, »ich krieg das einfach nicht richtig hin.« Sie fühlte sich matt von dem Ativan und wurde langsam frustriert. Ihre Stimmung schwankte von einem Extrem zum anderen. Gerade noch war sie draufgängerisch und entschlossen gewesen, aber jetzt wollte sie den verrückten Einfall am liebsten aufgeben.
    »Vielleicht mit Klebeband«, schlug Asher vor. »Ich glaube, ich habe oben welches.«
    Cam folgte ihm zurück die Rampe hinauf und durch die Bodenluke ins Kutschenhaus. Er war ziemlich ordentlich für einen Jungen, wenn auch nicht zwanghaft ordentlich. Seine karierte Wolljacke hatte er über die Lehne eines Küchenstuhls gehängt, statt direkt in den Garderobenschrank wie Mr. Bean, aber er hatte sie auch nicht einfach aufs Sofa geworfen.
    Die Einrichtung war sehr maskulin mit all den Sitzmöbeln aus Leder und den Orientläufern. Ein Billardtisch stand in der hinteren Ecke. Sein Schlafplatz befand sich in einem alkovenartigen Zwischenboden über der Küche. Während er in den Küchenschubladen nach dem Klebeband kramte, sah Cam sich weiter um. Sepiabraune Fotos von seinen fleißigen Vorfahren hingen an der Wand hinter dem Schreibtisch. Die bärtigen Männer trugen Hüte und Hosenträger und die adretten Damen Korsetts und Haarknoten. Auf einem Bild war eine schöne Frau mit lockigen Haaren bis zur Taille zu sehen. Sie war nicht in ein Korsett eingeschnürt wie die anderen, sondern trug ein lose fallendes Kattunkleid, blickte auf ihre Hände und saß mit dem Profil zur Kamera, ein bisschen wie Whistlers Mutter. Jemand hatte Olivia, 1896 an den unteren rechten Rand geschrieben.
    Es lag etwas Schamhaftes darin, wie sie nicht in die Kamera blicken wollte, doch ihr gerader Rücken sprach auch von Würde. Cam wusste sofort, dass es die Frau war, die viele Jahre oben im Witwengang verbracht hatte.
    Dann entdeckte sie ein Foto von Asher mit seiner Mutter. Es stach farbig hervor unter den verblassten Aufnahmen, sodass es nicht zu übersehen war. Asher hatte ein grünes Kapuzensweatshirt an, und sein kleines, braunäugiges Gesicht, das schon das Grübchen zeigte, blickte zwischen den Sprossen einer blauen Leiter hindurch, während seine Mutter ihn von hinten hielt, um ihm auf die Rutsche zu helfen. Sie war eine sehr schöne Version von Elaine, mit goldblonden Haaren und Ashers leuchtenden braunen Augen. Sie sahen glücklich aus. Strahlend. Nicht ahnend, dass der Tag kommen würde, der sie für immer auseinanderriss.
    »Wo ist dein Großvater?«, fragte Cam.
    »Tot«, antwortete er.
    »Aber hast du nicht gesagt …«
    »Ich muss davon ausgehen, dass er tot ist.«
    »Warum konnte eure Wunderstadt ihn nicht retten?«
    »Weil er sie verlassen hat. Er ist nie zurückgekommen. Das Gleiche passierte auch meinen Eltern, sie starben auf dem Flug nach Hawaii.«
    »Ich weiß.«
    Cam spürte erneut seine schwere Bürde, den Bleianzug, den sie getragen hatte, als sie sein Leben in Elaines Haus getanzt hatte. Er war der Hüter des Hauses, der Hüter der Erinnerungen und, neben Elaine, der einzige Überlebende der Familie. Kein Wunder, dass er kein Stipendium annehmen wollte. Diese Stadt zu verlassen würde für ihn eine Art Tod bedeuten. Nicht die Art, der sie selbst ins Auge sah, aber dennoch ein Tod.
    »Du hast ein ernstes Problem mit dem Verlassenwerden, Slasher«, bemerkte sie.
    »Meinst du?«
    »Allerdings. Jahrelange Therapie«, sagte sie augenzwinkernd.
    »Und was ist mit dir? Was führt dich in die Wunderstadt?«
    »Ich bin todkrank«, gestand Cam.
    Asher lehnte mit dem rechten Arm am Küchentresen. Er blickte zu Boden, und Cam starrte auf die hervortretenden Adern an seinem Unterarm. Seufzend schüttelte er den Kopf. Offenbar hatte er so etwas schon öfter gehört. Sie war nicht die erste Pilgerin, die in der Hoffnung auf ein Wunder hierherkam. »Das ist eine ganz schlechte Nachricht für mich und mein Ding mit dem Verlassenwerden, Eselflüsterer.«
    »Du sollst mich nicht so nennen.«
    »Okay, ich muss das nur erst wieder

Weitere Kostenlose Bücher