Flashback
Männer pinkelten.
Val fand seinen Großvater, der im kühlen Nachtwind von einem Bein aufs andere trat, ohne sich dem Abgrund zu nähern. Val war klar, dass Leonard sich nie zu den Fahrern und anderen Männern stellen würde, um über die Felskante zu pinkeln. In dieser Hinsicht war Leonard schamhaft. Wenn es sein musste, hielt es der Alte lieber den ganzen Weg bis nach Denver zurück.
»Ich fahre den Rest der Strecke bei Henry Big Horse Begay mit«, eröffnete er Leonard.
Sein Großvater zögerte, als müsste er überlegen, ob er es erlauben sollte, doch dann merkte er, dass ihn Val gar nicht um Erlaubnis gefragt hatte, und nickte nur. Mit seiner hageren Silhouette, den in den Taschen seines viel zu dünnen Anoraks vergrabenen Händen und dem langen weißen, vom kalten Wind zerzausten Haar wirkte Leonard auf einmal sehr alt – gealtert von der Reise, betagt wie König Lear.
Val hatte schon gepinkelt und den Anblick seines Urinstrahls neben dem von Gauge Devereaux und den anderen genossen, die sich als helle Streifen vor der dunklen, wüstenpolierten Felswand unter ihnen abzeichneten. Jetzt blieb er noch eine Minute bei seinem sichtlich müden, frierenden und unglücklichen Großvater stehen.
»Val, hast du im Fernsehen die Nachrichten über die Kämpfe in Los Angeles gesehen?« Leonard ließ die Stimme sinken, als würde ihn das Thema innerlich vergiften.
»Nein. Devereaux hat kein Fernsehen in seinem Führerhaus. Ist es noch schlimm?«
»Schlimmer. Anscheinend fällt die Stadt völlig auseinander.«
Gut. Val hatte L. A. in den fünf Jahren und elf Tagen, die er dort verbracht hatte, nur gehasst. Er hatte gehofft, dass ein neues Riesenerdbeben die Stadt völlig verschlingen würde, aber diese gnadenlosen Kämpfe waren auch nicht schlecht.
»Der Gouverneur hat das Kriegsrecht verhängt und Washington um Hilfe gebeten«, fuhr sein Großvater fort. »Aber es stehen einfach keine Truppen zur Verfügung.«
Gut. »Dein Kumpel Emilio Dingsda und die Reconquistas haben also nicht einfach die Macht übernommen, wie sie sich das vorgestellt hatten.«
»Offenbar nicht.« Leonard schielte nach den Gruppen von Fahrern, die rauchend und redend zusammenstanden und keine Eile zeigten, wieder in die beheizten Lastwagen zu steigen. »Bloß gut, dass wir noch rechtzeitig da rausgekommen sind, Val.«
Du wiederholst dich, Leonard. Val nickte und zog seine abgewetzte Lederjacke zu. Julio hatte ihm eine alte Truckermütze gegeben, die er jetzt ständig trug, sogar beim Schlafen. »Hast du noch mal über Moms Passwort nachgedacht, Grandpa?«
Val bemerkte Leonards Zögern und wusste nicht, wie er es deuten sollte. Er hatte dem Alten natürlich absichtlich von den verschlüsselten
Dateien erzählt, weil er hoffte, dass Leonard vielleicht ein Wort einfiel, das für seine Tochter große Bedeutung gehabt hatte.
Nicht dass Val diesen Riesenhaufen Daten brauchte, egal ob es sich um Text, Bilder oder Filme handelte.
Er hatte schon genügend Beweise, dass sein Vater irgendwie hinter dem Tod seiner Mutter steckte. Und dafür musste er zahlen.
Val griff nach hinten und spürte die Beretta in seinem Hosenbund.
»Ja, ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Leonard. »Wenn wir uns das nächste Mal zusammensetzen, habe ich vielleicht einige Vorschläge. Das ist die letzte Nacht, bevor wir Denver erreichen – wenn in den Bergen von Colorado alles gutgeht. Möchtest du wirklich bei Mr. Begay mitfahren?«
»Ja.« Fast ohne es zu wollen, platzte Val mit einer Frage heraus: »Grandpa, haben wir noch zweihundert Dollar?«
»Ja, ja, sogar noch mehr … Moment, Val, meinst du neue oder alte Dollar?«
»Alte. «
Leonard wirkte geschockt. »Nein, natürlich nicht. Ich habe fast all meine – unsere – Ersparnisse für einen Platz in diesem Konvoi ausgegeben, Val. Das weißt du doch. Und wofür, wenn ich fragen darf, brauchst du überhaupt zweihundert alte Dollar? Das sind ja fast dreihunderttausend neue Bucks.«
»Für was wirklich Wichtiges. Damit könnte ich Trucker werden. «
»Nun, eines Tages könnte das ein löbliches Ziel sein, Val. Allerdings hatte ich gehofft, dass bei deiner Intelligenz vielleicht ein Studium … «
»Ich will es nicht eines Tages , Leonard.« Val gab sich keine Mühe, seinen Ärger über die Begriffsstutzigkeit des Alten zu verbergen. »Ich will Denver am Sonntag mit diesem Konvoi verlassen. Aber
dafür brauche ich zweihundert alte Dollar. Vielleicht sogar ein bisschen mehr.« Abgesehen davon, dass es
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