Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
lauerte und lauschte.
Ich holte meine Taschenlampe heraus und vergewisserte mich, dass sie funktionierte. Weil ich den Strahl nicht auf die Straße richten und mich so eventuell verraten wollte, steckte ich das vordere Ende kurzerhand in den Mund und betätigte den Schalter. Meine aufgepusteten Wangen leuchteten knallrot. Die Lampe funktionierte einwandfrei.
Jedem anderen, der sich zu dieser unchristlichen Stunde draußen herumtrieb, Wilddiebe und dergleichen, muss ich wie ein geisterhafter Halloween-Kürbis erschienen sein, der die Straße nach Bishop’s Lacey entlangschwebte, mit schwarzen Augenhöhlen und einem von überirdischem Licht erleuchteten Schädel.
Ich wandte den Kopf nach rechts und links und starrte geis-terhaft in die Straßengräben.
Legenden würden sich um mich ranken: »Der Jäger aus der Hölle«, würden die Eltern ihren Kindern mit gedämpfter Stimme zuraunen und behaupten, sie hätten sogar die Hufschläge eines Geisterpferdes vernommen.
Sie würden die Kleinen ermahnen, ja nicht zu lügen oder Süßigkeiten zu stibitzen. Sonst …
Obwohl es Spaß machte, sich das auszumalen, war mir sehr wohl bewusst, dass ich mich damit nur von meiner eigenen Angst ablenken wollte.
Welche Schrecknisse mochten mich in dem feuchten, lehmigen Tunnel unter der Kirche erwarten? Es war weniger der Gedanke an irgendwelche Untoten, der mich beunruhigte, sondern vielmehr die Gewissheit, dass in Bishop’s Lacey ein Mörder frei herumlief.
Um diese frühe Stunde würden keine Polizeibeamten vor Ort sein. Niemand würde mich retten, falls ich in der Klemme saß.
Diesmal glich der Friedhof den schaurigen Illustrationen in Daffys Gruselromanen: schwarze Schatten und schiefe Grabsteine wie abgebrochene Zähne, und überall das unheimliche Friedhofsmoos, das im kalten Licht des fast vollen Märzmondes ein fahles grünblaues Leuchten verströmte.
Ich stellte Gladys auf der Nordseite von Cassandra Cottlestones Grabmal ab und tätschelte ihren Sattel. Das silbrige Schimmern ihrer Lenkerenden ließ mich an ein ängstliches Pferd denken, bei dem man das Weiße in den Augen sieht.
»Sei wachsam!«, raunte ich ihr zu. »Ich bin bald wieder da.«
Der Erdhügel und die Plane sahen noch so aus, wie ich sie zurückgelassen hatte. Soweit bei Mondschein zu beurteilen, waren keine neuen Fußspuren dazugekommen, keine frischen Abdrücke hochoffizieller Stiefel.
So weit, so gut , dachte ich.
Ich kroch unter die Plane, ließ die Füße einen Augenblick im Leeren baumeln – dann hüpfte ich ins Grab hinein.
Wie schon beim ersten Mal schlug mir ein überwältigender Gestank entgegen, aber ich war fest entschlossen, ihn diesmal einfach zu ignorieren.
Weil jetzt keine Gefahr mehr bestand, dass jemand das Licht entdeckte, knipste ich die Taschenlampe an und wandte mich der schweren Holztür zu.
Ich hatte eines meiner Lieblingswerkzeuge eingesteckt: die Zahnspange aus Draht, die ich letzten Sommer ruiniert hatte, als ich sie in Greyminster einem ähnlichen Zweck zugeführt hatte. Die Spange und eine zurechtgebogene Gurkengabel – die hoffentlich niemand vermissen würde – waren alles, was man brauchte, um praktisch jedes Schloss auf Gottes weitem Erdboden zu knacken.
Allerdings war dieses Schloss hier verrostet. Es konnte jedoch noch nicht allzu sehr oxidiert sein, dachte ich, denn wenn meine Vermutung zutraf, war es zumindest vor sechs Wochen geöffnet worden. Trotzdem klemmte das Biest.
Wo sollte ich um halb drei Uhr morgens in einem stinkenden Grab Schmieröl auftreiben?
Die Antwort folgte der Frage auf dem Fuße.
Es gibt einen ungesättigten Kohlenwasserstoff mit der Molekülformel C 30 H 50 und dem unschönen Namen »Squalen«, den man in Hefe, Olivenöl, Fischrogen, der Leber bestimmter Haiarten und auf der menschlichen Nase findet.
Wegen seiner besonders hohen Viskosität wird Squalen von Uhrmachern zum Ölen von Zahnrädchen benutzt, von Butlern, um Elfenbein zu polieren, von Räubern, um Revolver zu schmieren, und von Rauchern, um ihre Lieblingspfeifenköpfe damit zu verwöhnen.
Guter alter stinknormaler Nasentalg, mit dem man ein gutes altes stinknormales Einsteckschloss gängig machen konnte.
Das Türblatt selbst war aus dicken Brettern zusammengezimmert. Sie trugen noch die Spuren des Stemmeisens, mit dessen Hilfe das Schloss eingepasst worden war. Es war ein einfaches Buntbartschloss, das mit einem Bartschlüssel zu öffnen war.
Ein Kinderspiel.
Ich kratzte mit dem Fingernagel über meinen Nasenflügel
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