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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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– und dann: Kung- Fu! Doch Tenzin hat einen Kopf aus Beton –, und dann hat es ›Knacks‹ gemacht. Und dann weiß ich nichts mehr.«
    Erschöpft läßt sich Little Pema auf das Untersuchungsbett des Amchi fallen.
    »Es scheint, daß deine Tochter zu viele schlechte Filme guckt.« Ratlos dreht sich der Amchi zu der Mutter um und seufzt: »Wie auch immer es passiert sein mag, ich verstehe nicht, warum du dein Kind nicht sofort in ein Krankenhaus gebracht hast.«
    »Die Behandlung wäre unbezahlbar für uns gewesen.«
    »Dein Mann ist weg?«
    Die Mutter nickt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sich der Amchi wieder dem Kind zuwendet. »Ich kannte deinen Großvater gut, als er noch jung war. Du siehst ihm ähnlich.«
    Ein kleines Lächeln huscht um Little Pemas schmalen Mund.
    Mit seinen guten Händen streicht der Alte eine kühle Kräuterpaste auf das verletzte Bein. Über seinem Untersuchungsbett hängt ein alter Wandteppich, auf dem die Orakelgöttin Palden Lhamo mit flammenden Haaren über einen riesigen See aus Blut und Gebeinen reitet. Mit ihrer Krone aus Totenköpfen sieht sie furchterregend aus. Doch in Wahrheit hat Palden Lhamo aus Mitgefühl so viele Gebrechen der Welt wie möglich geschluckt und den Rest in eine große, schwarze Tasche gestopft. Die Hufe ihres dampfenden Tieres scheinen in der Luft zu schweben, sie berühren kaum noch den See, dessen blutrote Farbe allmählich vergilbt.
    Es muß toll sein, fliegen zu können, denkt Pema, wer fliegt, ist den Göttern so nah !
    Auf dem Weg in die Stadt haben sie eiserne Vögel gesehen, die durch den Himmel schwammen. Sie malten weiße Streifen in sein tiefes Blau, die immer länger und breiter wurden.
    »Die Menschen, die in diesen Fliegern sitzen, sind reich«, erklärte die Mutter. »Sie haben Pässe und dürfen überallhin. Für sie ist die Heimat kein dunkles Gefängnis.«
    Sorgfältig wickelt der Amchi einen weißen Verband um das Bein der kleinen Träumerin.
    »Wann wird mein Kind wieder richtig laufen können?« fragt die Mutter leise.
    »Tage, Wochen, vielleicht auch Monate. Es wird Zeit brauchen, bis der Knochen nicht mehr schmerzt. Ganz gerade wird er vermutlich nie.«
    »Wird sie jemals weite Strecken gehen können?«
    »Weite Strecken?«
    »Weite Strecken über hohe Berge.«
    Der Amchi teilt den Verband mit einer Schere und bindet eine Schleife um Little Pemas Bein. Dann verschwindet er wortlos im Nebenzimmer, wo braune Kräuterkügelchen verschiedenster Zusammensetzung in durchsichtigen Gläsern die Regale füllen.
    Die Mutter hört das Rascheln der Papiertütchen, in die der Amchi seine Medizin abfüllt. Hinter ihnen brodelt Wasser auf einem kleinen Gaskocher.
    Als der Amchi mit einem scharf gewürzten Tee wiederkommt, ist Little Pema eingeschlafen und reitet auf einem Pferd mit flammender Mähne über den weißen Kondensstreifen am Himmel davon.
    Traurig schüttelt der Alte den Kopf und reicht der Mutter eine Tasse Tee: »Sein Kind nach Indien zu schicken ist doch keine Lösung für unser Land.«
    »Es ist aber eine Lösung für viele Familien.«
    Der Amchi seufzt. Er weiß, daß der Entschluß der Mutter längst gefaßt ist.
    »Auch wenn der Bruch verheilt ist, wird dein Kind immer das schwächste Glied in einer Gruppe sein«, warnt er sie, »deshalb brauchst du einen guten Guide. Einen, der die Kleine nicht im Schnee zurückläßt, wenn sie nicht mehr weiterkann.«
    »Ich habe kein Geld, um einen Guide zu bezahlen.«
    Der Blick des Alten versinkt für eine Weile in der hellbraunen Brühe, bevor er sich mit einem kräftigen Räuspern Mut verschafft, um weiterzusprechen.
    »Was ich dir jetzt sage, fällt mir nicht leicht. Denn wir leben in einer Zeit, in der keiner dem anderen trauen kann, und mein Sohn wird mich schelten dafür. Aber ich spüre, daß deine Not echt ist, deshalb mache ich dir einen Vorschlag: Unser jüngster Enkel – er wird bald acht – soll auch nach Indien gehen, um dort eine gute Schulausbildung zu bekommen. Du kannst dir vorstellen, was ich davon halte. Aber mein Sohn ist genauso stur wie du. Er kennt einen Guide, von dem die Leute sagen, er sei so gut wie Gold. Noch nie hat er ein Kind im Schnee verloren. Sein Name ist Nima, und er hat das Gewissen eines Amchis: Von den Kindern armer Eltern nimmt er kein Geld. Aber er verlangt, daß sie ihren Kleinen gute Schuhe, warme Jacken und Sturmmützen besorgen. Sobald Nima im Land ist, werde ich es dich wissen lassen.«
    Die Mutter wagt nicht, einen Schluck Tee zu

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