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Flug in Die Nacht

Flug in Die Nacht

Titel: Flug in Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dale Brown
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volkreichsten Staats der Welt konnte noch recht gut gehen, obwohl zwei bullige Marine-Infanteristen bereitstanden, um ihm beim Hinsetzen und Aufstehen zu helfen. Sein schwarzes Haar war offensichtlich auf Drängen seiner Berater oder aus persönlicher Eitelkeit gefärbt, aber das von tiefen Runzeln durchzogene Gesicht und die arthritisch verkrümmten Hände verrieten sein wahres Alter. Nur seine Augen waren nicht die eines Greises – Cheungs Blick war noch immer klar, noch immer beweglich, noch immer hellwach.
    Trotz anderslautender Gerüchte schien der Alte das Steuer des Staatsschiffs weiter fest in den Händen zu halten …
    Andererseits weckte ein rascher Blick in die Runde gewisse Zweifel in Leing. Die Minister für Äußeres, Justiz und Außenhandel waren anwesend, aber statt der Minister für Inneres, Finanzen, Verteidigung und Industrie waren ihre militärischen Vertreter erschienen. Hier war keine Zivilregierung, sondern ein Militärtribunal versammelt.
    Und Leing kannte natürlich den Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee, Generaloberst Chin Po Zihong. Für einen chinesischen Spitzenfunktionär war Chin jung – siebenundsechzig, wenn Leing sich recht erinnerte –, aber er wirkte mindestens zehn Jahre jünger. Er war ein kleiner, stämmiger, schwarzhaariger Mongole, bei dem einem sofort die Mongolenhorden einfielen, die vor Jahrhunderten in Asien und Europa Angst und Schrecken verbreitet hatten. Im Gegensatz zu den meisten hohen Offizieren trug Chin keine Auszeichnungen an seiner schlichten grauen Uniform. Er brauchte keine Ordensbänder, um anderen seine Macht und Autorität zu beweisen.
    Cheung sprach, und der Dolmetscher übersetzte: »Der Ministerpräsident entbietet dem Genossen Leing die Grüße seiner Regierung. Der Ministerpräsident erkundigt sich, ob er etwas tun kann, um das Wohlbefinden des Botschafters der Republik Vietnam zu steigern.« »Nichts, Genosse Ministerpräsident«, antwortete Leing lächelnd. »Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Angebot. Auch ich darf die Grüße der Republik Vietnam überbringen.« Cheung verbeugte sich leicht, und die zivilen Minister folgten seinem Beispiel, während die Militärs auf diese höfliche Geste verzichteten. Vor allem Chin wirkte wie aus Stein gehauen – unbeweglich und unergründlich.
    »Der Ministerpräsident möchte den Botschafter aus Vietnam einladen, an einer Besprechung über die Lage auf den Philippinen und im Südchinesischen Meer teilzunehmen«,übersetzte Leings Dolmetscher. »Generaloberst Chin wird einen ausführlichen Lagebericht geben. Er wird die Ereignisse darstellen, die zum Einsatz chinesischer Streitkräfte im dortigen Gebiet geführt haben, und die weiteren Absichten und Ziele der chinesischen Militärführung erläutern.«
    Leing konnte seine Überraschung nur mühsam verbergen.
    Der Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee wollte dem vietnamesischen Botschafter den Einsatz seiner Streitkräfte erläutern? Ein erstaunliches Angebot!
    In den letzten fünfzig Jahren waren die Beziehungen zwischen China und Vietnam durch ein ständiges Auf und Ab gekennzeichnet gewesen. Beide Staaten waren kommunistische Republiken; die vietnamesische Führungsstruktur war eine verkleinerte Kopie der chinesischen. Beide waren Militärmächte im Pazifik: Vietnam besaß das viertgrößte Heer und die achtgrößte aus kleinen Schiffen bestehende Kriegsmarine der Welt. Aber die von kurzfristigem Vorteilsdenken geprägten politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten waren im allgemeinen bestenfalls stürmisch und schlimmstenfalls kriegerisch gewesen.
    Im Augenblick herrschte eine latent feindselige, aber unkriegerische Phase. Die von beiden Staaten erhobenen Besitzansprüche auf die Spratly-Inseln lagen vorerst auf Eis, obwohl sich China in eindeutig besserer Position befand. Im Gegenzug hatte Vietnam sich den ASEAN-Staaten angeschlossen und seine Beziehungen zu Rußland, den Vereinigten Staaten und vielen anderen Staaten verbessert. Der Ende der achtziger Jahre geführte kurze, aber erbitterte Krieg um die Spratly-Inseln war praktisch vergessen, Grenzkonflikte waren seltener geworden, und das Verhältnis zwischen den beiden Staaten war seit einigen Jahren gespannt, aber unblutig.
    Weshalb hatte China plötzlich das Bedürfnis, Vietnam über sein Eingreifen auf den Philippinen zu informieren?
    »Im Namen meiner Regierung nehme ich Ihr großzügiges Angebot dankend an, Genosse Ministerpräsident«, antwortete Leing vorsichtig. »Die

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