Frag die Karten
aufgeregt, vielleicht wegen der Wahrsagerin?«
»Ach so.« Sie dachte nach. »Ich würde
sagen, sie war nicht gerade bester Laune.«
»Wieso nicht?«
»Nun, sie kam mir irgendwie — ungeduldig
vor.«
»Weshalb?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das kann
ich dir nun wirklich nicht sagen.«
Ich versuchte es von einem anderen
Ausgangspunkt. »Hat sie dabei ihre Sitzung bei Madame Anya erwähnt?«
»Ja. Übrigens — bist du gestern bei ihr
gewesen?«
»Mhm. Eine seltsame Frau.«
»Eine alte Vogelscheuche.«
»So schlimm ist sie nicht. Sie ist eben
einsam.«
Wieder zuckte Linnea mit den Schultern.
»Jedenfalls«, sagte ich, »Madame Anya
wollte mir nichts von der Sitzung mit Molly erzählen — sie erklärte, das müsse
vertraulich bleiben. Was hat dir Molly erzählt?«
Linnea preßte eine Hand gegen die
Stirn. »Ach Gott, ich vergesse in letzter Zeit so viel; es kommt mir so vor,
als ob alles durcheinanderläuft.«
»Das rührt daher, daß du so viel
trinkst.«
Ich bedauerte augenblicklich, es gesagt
zu haben. Linnea senkte die Augen und zupfte an einem Faden ihres Kaftans. Dann
meinte sie bedrückt: »Warum mußt du ausgerechnet heute darauf herumreiten?
Warum bringst du das immer ins Gespräch, wenn wir uns mal nett unterhalten?«
Es war mir nicht bewußt gewesen, und es
tat mir leid. »Entschuldige, du meinst, es geht alles durcheinander bei dir
seit deiner Scheidung, und so weiter.«
»Ja, seit meiner Scheidung, und so
weiter.« Ihr Ton imitierte spöttisch den meinen.
Ich wandte mich dem langen Spiegel an
der Schranktür zu und steckte die rote Bluse in die Hose. »Aber erinnerst du
dich an das, was Molly dir erzählt hat?«
Linnea seufzte und stellte klirrend die
Kaffeetasse ab. »Irgendwas darüber, daß Anyas Rat sie nur noch tiefer ins
Schlamassel gebracht hat«, sagte sie verärgert. »Und daß sie am liebsten diese
Karten nie gesehen hätte. Mein Gott, Sharon, es war nichts weiter als ein
alberner Aberglaube. Warum soll ich mich daran erinnern?«
Du willst dich nicht erinnern, weil
Molly sich die Mühe gemacht hatte, dich an deine Probleme zu erinnern, dachte
ich. Ich warf die Jacke des Hosenanzugs über und glättete den Kragen meiner
Bluse, ließ mir viel Zeit dabei, um die Frage hinauszuschieben, vor der ich
mich am meisten fürchtete.
»Lin, als du gestern abend
saubermachtest, hast du da zufällig ein Stück Vorhangschnur gefunden, das ich
beim Aufhängen der neuen Vorhänge abgeschnitten habe?«
»Was für eine Vorhangschnur?«
»Sie hat auf dem Couchtisch gelegen.
Eine weiße Kordel.«
»Ich erinnere mich nicht daran.«
»Hast du sie nicht auf dem Couchtisch
oder irgendwo anders gesehen?«
»Nein. Um alles in der Welt, Sharon,
was ist schon so wichtig an einem Rest Vorhangschnur?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht werde ich allmählich eine von den alten Jungfern, die Schnüre
sammeln.«
Sie kicherte. »Eine Detektivin, die
Schnüre sammelt, ihre Verdächtigen damit fesselt und zum Verhör schleift.«
Ich lächelte und war froh, daß ihre
gute Laune zurückgekehrt war. »Du hast recht; es könnte ein beruflicher Vorteil
sein.« Jetzt drehte ich mein Haar zu einem losen Knoten im Nacken und nahm
gerade meine Handtasche, als das Telefon klingelte.
Linnea ging an den Apparat. »Hank. Er
möchte, daß du ins Büro kommst.«
»Danke.« Als ich durch das Zimmer ging,
sagte ich: »Hör zu, Lin, arbeite nicht zu viel. Du hast schon genug getan.«
»Okay.« Wieder legte sie diesen
Kleinmädchenblick an den Tag, etwas schuldbewußt und etwas schelmisch. Es kam
mir so vor, als hätte ich inzwischen den Platz ihres Mannes eingenommen — eine
Rolle, die mir gar nicht gefiel. Dieses unangenehme Gefühl verfolgte mich auf
der ganzen Fahrt zum Büro und während der Konferenz. Und jetzt saß ich an
meinem Schreibtisch, starrte auf den Zettel mit Linneas Nachricht, und die
Vorstellung, plötzlich ein neunundzwanzigjähriges Kind am Hals zu haben, war
mir äußerst peinlich. Was sollte mit Linneas eigenen Kindern geschehen, die von
ihr abhängig waren? Für sie mußte Linnea stark und tüchtig sein, wie sie es
früher gewesen war. Die Mädchen konnten schließlich nicht immer bei der
Großmutter bleiben.
Nein, entschied ich, Linnea mußte
diesen Tag ohne mich durchstehen. Es nützte uns beiden mehr, wenn ich
versuchte, das, was von meinem Verdacht gegen sie übriggeblieben war, zu
verscheuchen. Außerdem hatte ich keine Lust, den ganzen Nachmittag
Kinderschwester zu spielen.
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