Frag die Karten
gehabt. Schön, sie hatten gestritten. Molly hatte ihr
Vorwürfe gemacht wegen ihres Alkoholkonsums. Aber deshalb bringt man niemanden
um.
Das heißt, wenn man vernünftig ist.
War Linnea vernünftig?
Natürlich.
War sie wirklich vernünftig?
Nun, vielleicht nicht immer. Aber
erwäge erst einmal die anderen Tatsachen. Mollys Wohnung ist durchsucht worden.
Und Molly war besorgt, machte sich offenbar Gedanken, war nervös gewesen — irgend
etwas mußte an ihrem Todestag geschehen sein. Daraus konnte man erkennen, daß
ihr Mörder ein Motiv haben mußte. Vielleicht hatte er den Mord sogar in allen
Einzelheiten geplant.
Warum vergißt du nicht Linnea in diesem
Zusammenhang und suchst nach dem wirklichen Mörder? Wenn du ihn gefunden hast,
wirst du wissen, daß deine Freundin unschuldig ist!
Versuch’s wenigstens mal, ja?
Mein nächster Eindruck war der von frisch
aufgebrühtem Kaffee gewesen. Ich hatte mich auf einen Ellbogen gestützt, als
Linnea aus der Küche kam, in einem gelben Kaftan aus Frottée, das weizenblonde
Haar in kindliche Zöpfe geflochten. Sie schaute mich an mit dem Ausdruck einer
etwas ungezogenen Sechsjährigen.
»Bist du mir böse?«
Ich erinnerte mich daran, daß sie mich
genau dasselbe gefragt hatte, als sie mich bei einem Picknick der
Pfadfinderinnen in einen Bach gestoßen hatte. »Jetzt nicht mehr. Und — danke
für den Kaffee.« Ich machte Platz dafür auf dem Tisch neben dem Bett.
»Gern geschehen.« Sie setzte sich mit
verschränkten Beinen auf das Bett. Ihr frisch gewaschenes Gesicht wirkte
fröhlich, ihre Lippen lächelten zufrieden. »Ich habe gestern abend versucht,
hier ein bißchen Ordnung zu schaffen, und ich verspreche dir, daß ich heute
damit weitermache.«
»Du mußt hier wirklich wie ein Derwisch
herumgefegt sein«, sagte ich und erinnerte mich, daß sie und Clemente das
Blindenzentrum erst nach halb zehn verlassen hatten.
Linnea kicherte. Der Begriff ›wie ein
Derwisch‹ stammte aus unserer Jugendzeit, war Teil jener Geheimsprache, wie sie
häufig unter guten Freunden entsteht. »Du hättest mich sehen sollen. Ich wollte
Buße tun.«
»Buße tun ist einfacher als das Haus
putzen.« Ich erinnerte mich an die Perlen des Rosenkranzes, damals, als wir
Buße taten im Halbdunkel der Kirche in San Diego, dann verscheuchte ich den
Gedanken. Es war lange her, seit ich zuletzt zur Kirche gegangen war. »Und was
hast du heute vor?«
»Ich dachte, ich gehe in den Waschsalon
und bügle anschließend. Vielleicht backe ich uns auch Brot. Ich möchte
nachmittags zu Hause sein, für den Fall, daß — « Augenblicklich errötete sie
und sah sehr hübsch aus dabei.
»Für den Fall, daß Herb anruft?«
Sie nickte, und ihre Augen strahlten.
»Sharon, er hat mich gestern abend ins Blindenzentrum mitgenommen. Du hättest
seine Wohnung sehen sollen!»
»Er wohnt im ehemaligen Pfarrhaus,
nicht wahr?«
»Ja. Es ist wunderbar — Parkettböden,
dunkles Holz und Ziegel. Er hat handgewebte mexikanische Teppiche an den Wänden,
dazu Keramiken und Statuetten, die präkolumbianisch aussehen, und ein
Wasserbett... Ich freue mich schon darauf — « Sie brach ab, peinlich berührt
und begeistert zugleich.
Ich lachte, und sie lächelte zurück,
dann kicherten wir beide wie Schulkinder in den Umkleideräumen.
»Genau das, was mir der Doktor
verschrieben hat«, sagte Linnea.
»Es ist erstaunlich, wie dich ein neuer
Mann verändert.« Ich stand auf und ging zum Schrank. »Wenn es einer
fertigbringt, dich für die Hausarbeit zu interessieren — « Ich deutete auf die
Tafel Schokolade auf dem Couchtisch. »Hast du die auch gekauft?«
»Gestern nachmittag, im Supermarkt. Ich
hab’ die letzte aufgegessen, die dir dieser Polizist geschenkt hat, und wollte
sie ersetzen.«
Mit einem Stich schlechten Gewissens nahm
ich einen schwarzen, wollenen Hosenanzug aus dem Schrank und langte nach der
Kleiderbürste. »Aber das war doch nicht nötig!« Und ich wollte, sie hätte die
Schokolade nicht gekauft; die Tafel, die sie gegessen hatte, war eine
erstklassige Marke gewesen, während bei der Ghirardelli-Schokolade das Beste
die Verpackung war.
»Linnea«, sagte ich, während ich die
Jacke ausbürstete, »Gus hat mir erzählt, daß Molly hier bei dir war an dem Tag,
als sie ermordet wurde, und zwar gegen fünf. Welchen Eindruck hattest du von
ihr?«
Linnea zog die Stirn in Falten und
begann an ihren Zöpfen zu zupfen. »Wie meinst du das?«
»War sie glücklich? Oder unglücklich?
War sie
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