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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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er sich einen großen Priem in den Mund und setzte
sich und las, wobei er in regelmäßigen Abständen in eine Vase vom Nachttisch
spuckte, bis Licht im Fenster war. Er nahm zur Kenntnis, wie viel mehr ihn die
Seiten über ihn interessierten als die anderen; es bestätigte seinen lange
schon gehegten Verdacht, dass jeder letztlich nur über sich selbst lesen will.
Des Weiteren nahm er erfreut zur Kenntnis, dass dieses Selbst Patty ernsthaft
fasziniert hatte; es erinnerte ihn daran, warum er sie mochte. Trotzdem war seine
deutlichste Empfindung, als er die letzte Seite las und seinen nunmehr völlig
durchgeweichten Klumpen in die Vase plumpsen ließ, eine der Niederlage. Nicht
etwa durch Patty: Ihr Schreibtalent war beeindruckend, aber in Sachen Selbstdarstellung
konnte er ganz gut mithalten. Wer ihn besiegt hatte, war Walter, weil der Text
offensichtlich für Walter geschrieben war, als eine Art tieftraurige, anders
nicht zu übermittelnde Entschuldigung an ihn. Walter war der Star in Pattys Drama,
Katz lediglich ein interessanter Nebendarsteller.
    Einen
Augenblick lang öffnete sich in dem, was als seine Seele durchging, eine Tür
gerade weit genug, dass er seinen Stolz in dessen erbärmlicher Verletztheit
sehen konnte, doch er knallte die Tür zu und überlegte, wie dumm er gewesen
war, sich zu erlauben, sie zu wollen. Ja, er mochte die Art, wie sie redete,
ja, er hatte eine fatale Schwäche für eine gewisse kluge, depressive Sorte
Frauen, doch die einzige ihm bekannte Art des Umgangs mit solchen Frauen war,
sie zu vögeln, wegzugehen, zurückzukommen und sie wieder zu vögeln, wieder
wegzugehen, sie wieder zu hassen, sie wieder zu vögeln und so weiter. Er
wünschte, er könnte jetzt die Zeit zurückdrehen und dem Ich, das er mit
vierundzwanzig, damals in diesem üblen Loch auf der South Side von Chicago, gewesen war, zu der Erkenntnis gratulieren, dass eine
Frau wie Patty zu einem Mann wie Walter gehörte, der bei allen Verrücktheiten,
die er zusätzlich noch haben mochte, über die Geduld und Phantasie verfügte,
mit ihr zurechtzukommen. Der Fehler, den Katz seitdem begangen hatte, war der
gewesen, dass er sich immer wieder in eine Situation zurückbegab, in der er
sich zwangsläufig geschlagen fühlen musste. Pattys gesamtes Manuskript zeugte von der erschöpfenden Schwierigkeit, in
einer vergleichbaren Situation herauszufinden, was «gut» war und was nicht. Er
war sehr gut darin zu wissen, was für ihn gut war,
und normalerweise reichte das auch für jeden Zweck in seinem Leben aus. Nur bei
den Berglunds hatte er das Gefühl, dass es nicht genügte. Und dieses Gefühl
hatte er satt; er war bereit, einen Schlussstrich zu ziehen.
    «Also,
mein Freund», sagte er, «das ist nun das Ende von dir und mir. Diesmal hast du
gewonnen, alter Kumpel.»
    Das Licht
im Fenster wurde heller. Er ging ins Bad, spülte seine Spucke und den
ausgelaugten Tabak weg und stellte die Vase an ihren Platz zurück. Der
Radiowecker zeigte 5:57. Er packte
seine Sachen zusammen, ging mit dem Manuskript nach unten in Walters Büro und
legte es ihm mitten auf den Schreibtisch. Ein kleines Abschiedsgeschenk. Einer
musste hier schließlich reinen Tisch machen, einer musste diesem Schwachsinn
ein Ende bereiten, und Patty war dazu offensichtlich nicht in der Lage. Und
wollte also, dass Katz die Drecksarbeit verrichtete? Bitte schön. Er war
bereit, auf dieser Bildfläche den Part des Nicht-Lahmarschs zu spielen. Seine
Lebensaufgabe war es, die schmutzige Wahrheit auszusprechen. Das Schwein zu
sein. Er ging durch den großen Flur und dann zur Haustür hinaus, die ein
Schnappschloss hatte. Das Klicken, als er sie hinter sich zuzog, schien
unwiderruflich. Ihr Berglunds, lebt wohl.
    Feuchte
Luft war in der Nacht eingetroffen, betaute die Autos von Georgetown und
benetzte die schiefen Platten des Georgetowner Gehwegs. In den knospenden
Bäumen regten sich Vögel; eine früh startende Düsenmaschine sirrte über den
fahlen Frühlingshimmel. Selbst Katz' Tinnitus schien in der Morgenstille
gedämpft. Heute ist ein guter Tag zum Sterben! Wer hatte
das nochmal gesagt? Crazy Horse? Neil Young?
    Er
schulterte seine Tasche und ging in Richtung des seufzenden Verkehrs hinab,
gelangte schließlich an eine lange Brücke, die zum Zentrum der amerikanischen
Weltherrschaft führte. Ungefähr auf der Mitte der Brücke blieb er stehen,
blickte auf eine Joggerin weit unten auf dem Pfad am Bach und versuchte anhand
der Intensität der photonischen Wechselwirkung

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