Franzen, Jonathan
Abigail, «ist das
deine Privatflasche, oder dürfen wir auch was davon haben?»
«Wir
bestellen noch eine», sagte Ray.
«Ich
glaube, wir brauchen keine mehr», sagte Joyce.
Ray hob
seine joycebeschwichtigende Hand. «Joyce, also - beruhige dich. Alles ist
gut.»
Patty saß
mit gefrorenem Lächeln da und betrachtete die glanzvollen und plutokratischen
Gesellschaften an den Nebentischen im charmant diskreten Licht des Restaurants.
Natürlich lebte es sich nirgends auf der Welt besser als in New York. Diese
Tatsache war das Fundament der Selbstzufriedenheit ihrer Familie, die Bühne,
von der aus alles andere verspottet werden konnte, das Pfand einer
Erwachsenenkultiviertheit, das ihnen das Recht verschaffte, sich wie Kinder zu
benehmen. Patty zu sein und in jenem Restaurant in SoHo zu sitzen hieß, einer
Kraft entgegenzutreten, mit der zu konkurrieren völlig aussichtslos war. Ihre
Familie hatte New York für sich reklamiert und würde keinen Millimeter weichen.
Einfach nie wieder herzukommen - zu vergessen, dass es solche Restaurantszenen
überhaupt gab - war ihre einzige Option.
«Du bist
wohl kein Weintrinker», sagte Ray zu Walter.
«Wenn ich
wollte, könnte ich sicher einer werden», sagte Walter.
«Das hier
ist ein sehr guter Amarone, wenn du mal einen Schluck probieren möchtest.»
«Nein,
danke.»
«Sicher?»
Ray schwenkte die Flasche in Walters Richtung.
«Ja, er
ist sich sicher!», rief Patty. «Das sagt er ja jetzt auch erst seit vier
Abenden immer wieder! Hallo? Ray? Nicht alle Menschen
möchten betrunken, abstoßend und unhöflich sein. Es gibt auch welche, die
lieber eine ernsthafte Unterhaltung führen, als zwei Stunden lang Sexwitze zu
machen.»
Ray
grinste, als hätte sie das im Scherz gesagt. Joyce klappte ihre Lesebrille
auseinander, um in die Dessertkarte zu schauen, Walter wurde rot, und Abigail sagte, mit einer spastischen Halsverrenkung und säuerlichem Blick:
«? ? Nennen wir ihn jetzt ?»
Am
nächsten Morgen sagte Joyce mit zittriger Stimme zu Patty: «Walter ist so viel
- ich weiß nicht, ob konservativer das richtige Wort ist, vielleicht trifft es
konservativ nicht ganz, obwohl, na ja, von seinem Demokratieverständnis her,
Stichwort , Stichwort alle>, also, nicht direkt autokratisch, aber auf
gewisse Weise, doch, ja, irgendwie schon - konservativer, als ich erwartet
hatte.»
Zwei
Monate später, anlässlich von Pattys Examen,
sagte Ray mit schlecht unterdrücktem Glucksen zu ihr: «Bei der Chose mit dem Wachstum ist Walter so rot im Gesicht geworden, du meine Güte,
ich dachte schon, er kriegt gleich einen Herzinfarkt.»
Und
weitere sechs Monate danach, bei dem einzigen Thanksgiving, das Patty und Walter töricht genug waren, in Westchester zu feiern, sagte Abigail: «Wie
läuft's denn so mit dem Club of Rome? Seid ihr
dem Club of Rome schon
beigetreten? Hat man euch seine Erkennungswörter verraten? Habt ihr in seinen
Ledersesseln gesessen?»
Schluchzend
sagte Patty auf dem Flughafen LaGuardia zu Walter: «Ich hasse meine Familie!»
Und Walter
antwortete mannhaft: «Wir gründen unsere eigene!»
Armer
Walter. Zuerst hatte er aus dem Gefühl heraus, seinen Eltern finanziell
verpflichtet zu sein, seine Schauspieler- und Filmemacherträume an den Nagel
gehängt, und kaum hatte sein Vater ihn in die Freiheit entlassen, indem er
starb, tat Walter sich mit Patty zusammen und hängte im Tausch gegen eine
Anstellung bei 3M seine Weltrettungsambitionen an den Nagel, damit Patty ihr
fabelhaftes altes Haus bekommen und daheim bei den Kindern bleiben konnte. Das
Ganze geschah fast ohne Diskussion. Er begeisterte sich für die Pläne, die sie
begeisterten, er stürzte sich auf die Renovierung des Hauses und die Aufgabe,
sie gegen ihre Familie zu verteidigen. Erst Jahre später - nachdem Patty
begonnen hatte, ihn zu enttäuschen - wurde er
den anderen Emersons gegenüber nachsichtiger und betonte immer wieder, die
Glückliche sei doch sie, die Einzige, die den Schiffbruch überlebt habe und
davon erzählen könne. Er fand, man müsse Abigail, die auf
einer äußerst kargen Insel (Manhattan Island!) gestrandet sei und dort nach
emotionaler Nahrung stöbere, verzeihen, wenn sie Gespräche an sich reiße,
schließlich versuche sie doch nur, irgendwie satt zu werden. Er fand, Patty
solle Mitleid mit ihren Geschwistern haben, anstatt sie zu verurteilen, weil
sie nicht die Kraft oder das Glück gehabt hätten, sich zu lösen: weil sie
Weitere Kostenlose Bücher