Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)
Schmalz-Stange hätte sich wahrscheinlich mitsamt Paul und dem Benjamin Blümchen hörenden Sascha neben mich auf das Podium gesetzt, wenn man sie gelassen hätte, aber nun zogen sie allesamt ab. Selbstverständlich steckte das Baby in einem warmen Anorak. Auf Frau Schmalz-Stange war in jeder Hinsicht Verlass. Wenn sie nur nicht ganz so anhänglich gewesen wäre!
Sehr viel ruhiger und gefasster als bei meinem ersten Konzert betrat ich diesmal das Podium. Erstens war ich wieder sehr gut bei Stimme, zweitens wusste ich Paul in bester Obhut, und drittens faszinierte mich dieser Bassist.
Er trug heute keine ausgebeulten Hosen, sondern einen tadellos sitzenden schwarzen Anzug mit schwarzem Rolli, dazu sauber geputzte Schuhe. Tante Lilli hätte gejubelt. Sein Haupthaar war zwar schon ziemlich schütter, das hatte man gestern wegen der Pudelmütze nicht so sehen können, aber er hatte etwas ausgesprochen Männliches an sich, und die grauen Fäden an den Schläfen gaben ihm noch etwas Intellektuelles. Ich fand ihn großartig.
Beim Eingangschor fingerte ich nach dem Programmzettel, der in meinen Noten lag. Mich interessierte einfach die Vita dieses Mannes!
Statt mich also wie üblich durch Mitbrummen noch etwas einzusingen, blätterte ich im Programmheft, bis ich sein Bild und seinen Lebenslauf fand. Dies Bildnis ist bezaubernd schön!
Er hatte zwar keine Pudelmütze auf, aber noch sehr volle Locken. Es handelte sich ohne Zweifel um eine etwas ältere Aufnahme. Er musste ein ausgesprochen gutaussehender Mann gewesen sein.
Vorsichtig sah ich ihn von der Seite an. Sopranistin und Tenor saßen auf der anderen Seite des Dirigenten, weil sie zusammen duettieren mussten. Ich hatte den Bass für mich allein.
Er mochte sicherlich schon über vierzig sein. Und er war immer noch schön, irgendwie!
Verstohlener Blick auf seine Hände: kein Ring!
Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!
Kind, hör sofort auf, den Bassisten anzuhimmeln, und konzentriere dich auf die Musik!
Der Name! Caro nome! Der Jahrgang! Von wannen bist du? Unauffällig hielt ich das Programmheft in die Noten, damit mein sonor brummender Nachbar nicht sehen konnte, was ich über ihn las.
Simon Reich hieß er. Simon Reich, Bass.
Welch klangvoller Name für einen Mann seines Schlags!
Völlig hingerissen von ihm und seinem Bild stand ich auf, um mein erstes Solo zu singen.
»Nun wird mein liebster Bräutigam!«
Es gelang mir wirklich gut, und ich sang so locker und fröhlich wie schon lange nicht mehr. Als ich mich wieder setzte, sagte dieser unkonventionelle Simon, ohne die Stimme zu senken: »Ah ja, sehr begabt. Sie sollten mal Unterricht nehmen!« Damit bückte er sich und zauberte seinen Thermoskannenbecher mit der Hühnerbrühe hervor. Den hielt er mir unter die Nase.
Leider verbot es mir Tante Lilli durch einen ihrer unnachahmlichen Lilli-Blicke, Kreuz und Becher anzunehmen und vor aller Augen während eines Weihnachtsoratoriums heiße Suppe zu schlürfen.
Ich lehnte also errötend ab und senkte den Blick, wie sich das gehört.
Kurz darauf war dieser Simon dran, und er brillierte mit einer Trompete um die Wette. Es war wunderschön, und eine frohe, weihnachtliche Festtagsstimmung machte sich in mir breit.
Es war so einer der Momente, wo ich meinen Beruf mit keinem anderen tauschen wollte. Da saß ich mitten in einem herrlich funktionierenden musikalischen Apparat, rings um mich ertönten die festlichsten Wohlklänge, und ich durfte mein Scherflein zum Gelingen des Konzertes beitragen, ich durfte singen, weil mir das Herz überlief, und die Leute hörten mir freiwillig zu. Ganz abgesehen von der nicht unwesentlichen Gage, die man für so was bekam. Dafür musste Frau Schmalz-Stange einen ganzen Monat neben mir stehen!
Mir war unendlich froh und feierlich zumute, und ich wünschte, dieses Konzert würde nie zu Ende gehen.
Nach meiner zweiten Arie mit dem bezeichnenden Text »Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh« hatte Simon Reich die Augen zu.
Ob er tatsächlich eingeschlafen war?
Doch er relaxte nur ein bisschen. Ein richtiger Lebenskünstler schien er zu sein. Wie selbstverständlich hatte er die Beine ausgestreckt und seine Noten auf meinen freien Stuhl gelegt.
Der schien überhaupt keinen konventionellen Benimmzwängen zu unterliegen! Anscheinend hatte selbst in frühester Jugend nie eine Tante Lilli seinen freien Entfaltungsdrang gebremst.
Noch während des Konzertes begannen wir eine angeregte Unterhaltung. Simon Reich fragte
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