FreeBook Nomenclatura - Leipzig in Angst
S’riftstück?“
Lotte und Leuthäuser nickten gleichzeitig. „Wenn ich Ihnen die wörtliche Übersetzung vorlese, dann verstehen Sie wahrscheinlich gar nichts. Deshalb versuche ich das Ding mit eigenen Worten zu erklären. – Es muss wohl ein städtischer Ratsherr notiert haben, aus welchen Gründen auch immer. Wir haben das alte Zettelchen in einem Kirchenbuch als Lesezeichen gefunden. – Als Kaiser Karl seine Truppen in der Lochauer Heide bei Mühlberg konzentrierte, schickte er allerhand Ritter und Bauern, um die Stadt Leipzig zu erobern. Die wurden angeführt von einem niederländischen Adligen, der im Dokument mit Erik von Burgund bezeichnet wird. Karl der Fünfte hatte seinem lieben und machtgierigen Söhnchen, Philipp dem Zwoten, Spanien zum Beherrschen geschenkt, der dann auch noch über die Niederlande herfiel und diese eroberte ... soviel nur am Rande ... Also, wenn ich alles richtig interpretiert habe, dann ließ dieser Erik von Burgund aus den Dörfchen, rings um die Stadt Leipzig, einige Jungen – es steht da, vor dem zehnten Jahre – zusammentreiben, sperrte sie in eine Scheune und drohte damit, diese anzuzünden, würde sich die Stadt nicht sogleich ergeben. Dem Stadtrat schien das Schicksal der armen Kinder nicht sehr nahe gegangen zu sein, Politiker ließen sich schon damals nicht gern erpressen. Die armen Burschen hungerten zunächst sieben Tage, dann machte Erik seine Drohung wahr. Falls die Kinder nach sieben Tagen ohne Essen und Trinken noch lebten, so kamen sie jämmerlich in den Flammen um. Zwei Tage später fiel die Stadt Leipzig. – Die Katholiken töteten damals mit großer Genugtuung ihre angeblich ketzerischen, evangelischen Feinde. Egal ob Kind, Frau oder Mann. – Das Schriftstück jedenfalls ist für uns ein wenig wie eine Zeitung, ein Zeuge aus der Vergangenheit, eine lokale Reliquie. Es brachte uns, die wir es in unseren Sprachgebrauch übersetzten, eine längst vergangene Zeit greifbar nahe.“
Es war Stille im Raum, die erst nach Minuten von Hinrich unterbrochen wurde, der das fast 500 Jahre alte Schriftstück in den Händen hielt. „Wer weiß alles von diesem – sagen wir – Bericht?“
„Niemand ... Na ja, außer der Praktikant und wir hier.“
„Und Emanuel Müller haben Sie das gleiche erzählt, wie uns gerade?“
„Wir haben es zusammen transkribiert. – Er war sehr schockiert über die Geschichte, sie ging ihm sehr nahe. Er redete immer wieder darüber. ‚Die armen Jungen gehen mir nicht aus dem Kopf’, sagte er. Der Name! Erik von Burgund. Erik! Ich bin einfach nicht darauf gekommen, ich habe keine Verbindungen mit der heutigen Zeit gesehen, Herr Kommissar, sonst hätte ich mich längst bei Ihnen gemeldet. – Meinen Sie etwa, jemand hat das Gleiche vor? Meinen Sie das etwa? Jemand dreht den Spieß um, rächt sich an diesen kleinen Eriks?“
Hinrich nickte. „Jemand vielleicht. – Haben Sie von Herrn Müller noch etwas gehört, nachdem er hier sein Praktikum beendet hat? Hat er eine Kopie oder ein Foto von dem Schriftstück oder der Übersetzung mitgenommen?“
„Hm. Fotos hat er gemacht, ohne Blitzlicht. Aber gehört hab ich nichts von ihm ... obwohl er sich hier sehen lassen wollte. Hat er jedenfalls versprochen.“
„Sie auch nicht?“, fragte Hinrich in die Runde.
Die Frauen verneinten.
„War Erik Bästlein noch einmal hier? Allein?“, fragte Hanni Polterer.
Wieder schüttelten alle den Kopf.
„Falls Ihnen noch etwas einfällt, was auch immer, falls sich Emanuel Müller hier meldet, ich möchte umgehend informiert werden. Ist das klar?“ Hinrich legte seine Karten auf den Tisch.
Alle nickten.
Die anschließende Zeit nutzte Hanni Polterer, um im Gespräch einen weiteren Eindruck vom vermutlichen Täter zu bekommen.
Dann fuhren die beiden den kurzen Weg zurück in die Dimitroffstraße 1.
„Ich will alles über diesen Dr. Gutmeyer wissen! Aber so, dass der nichts merkt!“ Hinrich verteilte Aufgaben. Es gab nun keinen mehr, der nicht beschäftigt war. „Fahndungsmeldung zu Emanuel Müller, ja, international, die Streifen sollen verstärkt in Abrisshäusern, Gartenlauben und was weiß ich noch kontrollieren.“
Hanni Polterer nahm – ohne zu fragen – ein Telefon zur Hand, wählte eine Nummer. „Bist du die Kleine, mit der ich heut morgen geschwatzt habe? Hier ist die dicke Polizistin. Ja, die. – Okay. Nur drei Fragen, erstens: Hast du Emanuel nach dem Ende seines Praktikums noch einmal in eurem Amt gesehen? Oder im Rathaus?
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