Freiflug (Die Ratte des Warlords II) (German Edition)
sich die Prozession näherte, nickte Valentin Kepler zu. Er drehte sich um und sah auf die Angeklagten. Alle drei blickten zu ihm. Kepler sah sie aus verengten Augen an, gelassen und ruhig. Alle drei starrten zur Seite, als sie an ihm vorbeigingen.
"Gehen wir in die Cafeteria was trinken", sagte Valentin. "Ich glaube nicht, dass man Sie hören wollen wird, es kann aber sein."
Während der vier Tage der Verhandlung wurde Kepler nicht einmal aufgerufen, er verbrachte die Zeit mit Lesen auf der Bank vor dem Gerichtssaal.
Eine Woche später rief Valentin ihn an und sagte, er solle vorbeikommen. Als er da war, berichtete der Polizist, dass die Anwälte der Vergewaltiger zwar versucht hatten, ihre Mandanten wegen seiner Vorstrafen aus dem Dreck zu ziehen, aber für den Staatsanwalt stellte das keinen Zusammenhang mit diesem Fall dar.
Die Vergewaltiger hatten ihre Geständnisse nicht zurückgezogen und ihre Au ssagen belegten, dass Kepler in Notwehr gehandelt hatte, auch der Psychologe hatte das bestätigt. Aber ohne Strafe würde Kepler diesmal nicht davonkommen.
Seine Verhandlung fand direkt im Anschluss an die gegen die Vergewaltiger statt. Der Staatsanwalt hielt sich mit seinem Drang nach Gerechtigkeit zurück und der Richter berücksichtigte Keplers Lebenssituation und hielt ihm zugute, dass er ehrenamtlich Kinder trainierte. Zu einer Antiaggressionstherapie und gemeinnütziger Arbeit verdonnerte er ihn trotzdem.
Valentin war sichtlich zufrieden, dass Kepler nicht ins Gefängnis musste und drückte ihm freudig die Hand, nachdem sie den Saal verlassen hatten.
"Sie sind wieder einmal gerade eben davongekommen." Dann wurden sein Ton und sein Blick ernst. "Aber es wird nicht immer gutgehen." Er sah Kepler in die Augen. "Dirk, irgendwann verlässt Ihr Glück Sie."
"Ich weiß", antwortete Kepler schulterzuckend. "Irgendwann erwischt es j eden. Ich hoffe nur, es wird schnell gehen, mehr will ich gar nicht."
" Sie sind zu jung für solche Sprüche", sagte Valentin scharf, aber es klang nur zutiefst bedauernd. Er reichte Kepler die Hand. "Pass auf dich auf, Soldat."
30 . Bevor Kepler anfing, in Daijiros Sportschule zu trainieren, hatte er sich fade gefühlt. Dann hatte er ein Gefühl verspürt, etwas Sinnvolles zu tun, und sowohl sein Körper als auch sein Kopf waren beschäftigt. Dieser Zustand hatte eine Zeitlang angehalten, dann begann er allmählich zu schwinden. Es wurde immer alltäglicher, bis der Reiz des Neuen gänzlich verblasst war. Keplers Trainertätigkeit machte ihm keinen wirklichen Spaß mehr.
Seine Gruppe war seit dem Fest angewachsen. Zu Anfang war es für Kepler spannend, Kindern etwas beizubringen, aber dann nervte es ihn, elementare Dinge, die er vor fast dreißig Jahren gelernt hatte, zu erklären. Die Kinder kamen gern zu seinem Training, aber es bedeutete jedes Mal eine Anstrengung für ihn. Auf eine subtile Art reorganisierte er deswegen allmählich seine Tätigkeit und zog die älteren Kinder als Trainer für die jüngeren heran. Das gab den Kindern ein Gefühl der Verantwortung und Kepler brauchte nur noch hin und wieder die eine oder andere Anleitung zu geben oder etwas zu zeigen, aber damit erschöpfte es sich dann. Daijiro hatte nichts gegen diese Praxis. Sie funktionierte gut und festigte den Ruf der Schule als den einer großen Familie.
Mit Julia lief es ähnlich. Sie trafen sich, unternahmen etwas, manchmal mit Nico, aber meistens ohne ihn. Ihre Besuche im Klub wurden seltener, nur wenn Kepler nicht mehr ein oder aus wusste, ging er hin. Julia war nicht so extrovertiert wie Melissa. Sie wollte nicht oft ausgehen, die meiste Freude schien ihr zu bereiten, wenn sie bei ihr oder bei Kepler zu Hause fernsahen oder redeten. Dann kuschelte Julia sich an ihn und sie fühlte sich anscheinend erst dann richtig wohl, wenn er einen Arm um sie legte. Es schien Kepler, als ob auch Julia eine Leere in ihrem Inneren zu füllen versuchte. Vielleicht die, die ihr Mann hinterlassen hatte. Kepler wusste nicht, wie es mit Julias Leere stand, aber er wusste, dass seine nicht zu füllen war. Ihm reichte es, dass er sich mit Julia frei fühlte, aber dieses Gefühl hielt nicht länger als einen Abend an. Kepler hatte die Vorahnung, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Julia genauso wie Melissa genug davon haben würde. Doch je fester diese Überzeugung und die daraus resultierende Gleichgültigkeit wurden, desto mehr schien Julia ihre Beziehung festigen zu wollen. Kepler wollte es nicht. Julia
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