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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Sonnenbrand zum Gannett-Cumberland-Androscoggin-Wohnkomplex hinüberwandern sah. Im Untersuchungsraum hatte sie den Eindruck erweckt, als fühlte sie sich gar nicht wohl, versuchte aber, sich nicht gehenzulassen. Jetzt ging sie flott und hüftenschwenkend dahin, sah und wurde gesehen.
    »Der Prototyp unserer Hypochonder.« Miss Charlton legte das Thermometer in den Sterilisierapparat. »Wir sehen sie ungefähr zwei Dutzend Mal im Jahr. Vor jeder Reihe von Zwischenprüfungen werden ihre Besuche häufiger. Ungefähr eine Woche vor den Abschlußprüfungen ist sie überzeugt, daß sie entweder eine Virus-Angina oder eine Lungenentzündung hat. Bronchitis ist die Rückzugsposition. Sie versäumt vier oder fünf Prüfungen -- diejenigen, bei denen die Lehrer stur sind, um ihr eigenes Wort zu gebrauchen -- und holt sie dann unter erleichterten Bedingungen nach. Sie werden immer kränker, wenn sie wissen, daß eine Zwischenprüfung oder ein Abschlußexamen keine reine Formsache, sondern ein wirklicher Test ist.«
    »Mein Gott, was sind Sie heute morgen zynisch«, sagte Louis. Er war ein wenig verblüfft.
    Sie zwinkerte ihm zu, daß er lächeln mußte. »Ich nehme mir das nicht zu Herzen, Doktor. Und Sie sollten es auch nicht tun.«
    »Wo ist Steve jetzt?«
    »In Ihrem Büro. Er beantwortet Briefe und versucht, mit der letzten Tonne bürokratischem Bockmist von Blue Cross & Blue Shield fertig zu werden«, sagte sie.
    Louis ging hinein. Trotz Joan Charltons Zynismus tat es gut, wieder eingespannt zu sein.
     
     
    In der Rückschau erschien es Louis -- sofern er es überhaupt ertragen konnte, Rückschau zu halten --, daß der ganze Alptraum im Grunde begann, als gegen zehn an diesem Vormittag der sterbende Junge, Victor Pascow, in die Krankenstation gebracht wurde.
    Bis dahin war alles ruhig gewesen. Um neun, eine halbe Stunde nach Louis, waren die beiden Hilfsschwestem für die Schicht von neun bis drei gekommen. Louis spendierte ihnen einen Krapfen und eine Tasse Kaffee und unterhielt sich ungefähr fünfzehn Minuten mit ihnen; er erklärte ihnen, was sie zu tun hatten und (was vielleicht wichtiger war) was außerhalb ihres Tätigkeitsbereichs lag. Dann wurden sie von Miss Charlton übernommen. Als sie mit ihnen Louis' Büro verließ, hörte er sie fragen: »Ist eine von euch allergisch gegen Scheiße oder Kotze? Von beidem kriegt ihr hier genug zu sehen.«
    »Oh, Gott«, murmelte Louis und schlug die Hand vor die Augen. Trotzdem lächelte er. Ein zäher, alter Brocken wie Joan Charlton hatte auch seine guten Seiten.
    Louis machte sich daran, die langen Formulare von Blue Cross & Blue Shield auszufüllen, die ein vollständiges Inventar der Medikamentenvorräte und der medizinischen Ausrüstung verlangten. »Jahr für Jahr«, hatte Steve Masterton erbittert gesagt. »Jedes gottverdammte Jahr das gleiche. Warum schreiben Sie nicht Komplette Einrichtung für Herztransplantationen, Schätzwert acht Millionen Dollar, Louis? Die würden sich schön wundern!«Und er war völlig in seine Arbeit versunken und dachte nebenbei daran, daß ihm eine Tasse Kaffee gut tun würde, als er Masterton aus dem Wartezimmer schreien hörte: »Louis! Louis, kommen Sie schnell! Kommen Sie, verdammt nochmal!«
    Die Panik in Mastertons Stimme traf Louis wie ein Schlag. Er fuhr von seinem Stuhl hoch, als hätte er in seinem Unterbewußtsein mit so etwas gerechnet. Ein Schrei, dünn und scharf wie eine Glasscherbe, kam aus der gleichen Richtung wie Mastertons Ruf. Ihm folgte ein klatschendes Geräusch, und Joan Charlton sagte: »Hör auf oder scher dich raus! Hör sofort auf!«
    Louis stürzte ins Wartezimmer und sah zuerst nur das Blut -- eine Menge Blut. Eine der Hilfsschwestern schluchzte. Die andere, käsebleich, preßte die Fäuste in die Mundwinkel und verzerrte ihre Lippen zu einem heftigen, angeekelten Grinsen. Masterton war niedergekniet und versuchte, den Kopf des auf dem Boden ausgestreckten Jungen zu halten.
    Steve blickte mit weit aufgerissenen, wilden und entsetzten Augen zu Louis auf. Er versuchte zu sprechen. Es kam kein Ton.
    Vor den großen Glastüren der Krankenstation drängten sich Leute. Sie sahen herein, schirmten die Augen mit den Händen gegen das Sonnenlicht ab. Louis' Erinnerung beschwor ein Bild herauf, das diesem auf irrsinnige Weise glich: er saß als Kind von nicht mehr als sechs Jahren mit seiner Mutter am Morgen, bevor sie zur Arbeit ging, im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat. Er sah die alte Show »Today« mit Dave

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