Frucht der Sünde
Namen.»
«Das ist kein Problem, Merrily. Meine Notizen sind gar nicht so wichtig. Ich vergesse kein Gesicht. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Ich will nicht angeben, es ist einfach so. Ich lerne ein Drehbuch für eine Stunde Film in einer einzigen Nacht auswendig. Und heute», er beugte sich über den Rand der Kanzel, «bin ich so konzentriert wie noch nie.»
Seine Präsenz war beeindruckend. Obwohl er eine enge schwarze Hose und ein blousonartiges weißes Hemd trug, wirkte nichts an ihm schwächlich oder gar tuntig. Er war aus Richard Coffeys Schatten herausgetreten. Aus jeder Pore verströmte er die Entschlusskraft, mit der ihn sein Vorhaben erfüllte. Richard Coffeys Lustknabe schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Er stieg die Kanzeltreppe wieder hinunter.
«Sie nehmen das sehr ernst, oder?», sagte Merrily.
«Das wird die Aufführung meines Lebens», gab er ohne jede Melodramatik zurück. «Vielleicht», fügte er noch hinzu, «wird es danach keine weitere mehr für mich geben.»
Er stellte sich hinter das Eichenpult, dessen Halterung für die Bücher den Schwingen eines Adlers nachempfunden worden war. Meine Güte, dachte Merrily, er will wirklich den Messias spielen.
«Ich bräuchte einen Scheinwerfer, wenn das möglich ist. Genau hier. Am besten einen, der hinten über dem Eingang der Kirche hängt, sodass der Lichtkreis groß wird. Gibt es jemanden, der sich darum kümmern könnte? Der Scheinwerfer müsste einfachnur vor der Dämmerung eingeschaltet werden, sagen wir, eine halbe Stunde nachdem ich angefangen habe, sodass sich die Leute daran gewöhnen und dann gar nicht mehr wahrnehmen, dass ein Scheinwerfer brennt.»
«Das könnte Jane machen. Wir haben über dem Eingang ein paar Scheinwerfer, das wäre also kein Problem. Ich meine, ich kenne mich mit Theaterbeleuchtung nicht aus, aber …»
«Dieser eine Scheinwerfer reicht mir schon. Auf der Kanzel stelle ich Kerzen auf. Ich möchte, dass sich die Leute ganz ins siebzehnte Jahrhundert hineinversetzen können, sodass sie Wil Williams wirklich für ihren Pfarrer halten. Ich hoffe, ich trete Ihnen damit nicht zu nahe.»
«Nein, das ist schon in Ordnung. Vielleicht funktioniert es sogar besser, als wir denken. Haben Sie von dem Kostümspiel des Frauenvereins für das Festival gehört? Über das Arbeitsleben in Ledwardine im Lauf der Jahrhunderte?»
«Ich fürchte, ich habe den anderen Aspekten des Festivals nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.» Sogar seine Ausdrucksweise hatte sich verändert. Er sprach formeller, altertümlicher.
«Sie haben unterschiedliche Kostüme genäht», erklärte Merrily. «Nach authentischen Vorlagen. Natürlich entsprechen nicht alle Kostüme dem siebzehnten Jahrhundert, es gibt auch viktorianische und mittelalterliche …»
Stefan sagte: «Aber keine römischen Soldaten oder etwas in der Art?»
«Nein, keine römischen Soldaten. Und auch keine Brokatwesten aus der Tudor-Zeit, zehn Zentimeter hohe Halskrausen oder Bomberpiloten aus dem Zweiten Weltkrieg. Davon abgesehen war die Bekleidung auf dem Land immer eher bescheiden und hat sich wenig verändert. Denken Sie mal an die gewachsten Barbourjacken.»
«Ja.» Er dachte nach. «Ja. Die Kostüme werden sehr gut wirken.Sie tragen dazu bei, dass sich die Leute in eine andere Zeit versetzt fühlen. Verstehen Sie, was ich möchte?»
«Sie wollen sie vollkommen aus ihrem Alltag herausholen.»
«Genau.»
«Ich habe mir auch über die Sitzordnung Gedanken gemacht. Ich meine, die Bankreihen waren wohl schon früher auf den Altar ausgerichtet. Wo man saß, hatte aber mit dem sozialen Status zu tun. Es gab einen Bereich für den Adel und einen für die Bauern und die Diener. Die Diener mussten sich wie die Sardinen in die Bank quetschen, aber der Adel hatte viel Platz. Wir können die Leute natürlich nicht so kategorisieren, aber Frauen und Männer saßen ebenfalls getrennt. Die Frauen saßen gewöhnlich auf den Bänken der Nordseite, und die Männer, durch den Mittelgang von ihnen getrennt, auf der Südseite.»
«Und warum?»
«Weil die Frauen als weniger wichtig angesehen wurden und man annahm, dass die Nordseite der Kirche – jeder Kirche – den Kräften des Teufels stärker ausgesetzt ist. Den Grund dafür kann ich Ihnen auch nicht so genau erklären. Man wollte sich zum Beispiel nicht auf der Nordseite des Friedhofs beerdigen lassen. Sie können auf jeden Friedhof hier in der Gegend gehen; die Gräber an der Nordseite sind die jüngsten.»
«Und
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