Frucht der Sünde
den abendlichen Besuch in der Kirche zur Gewohnheit gemacht. Sie ging auf Gräbern. Einige der steinernen Bodenplatten waren jahrhundertealte Grabsteine. Francis Mott,gest. 1713. John Jenkyn, dessen Lebensdaten auf dem Sandstein nicht mehr zu erkennen waren, ebenso wenig wie die untere Hälfte des Totenschädels, der in die Mitte der Grabplatte eingemeißelt worden war.
Einen größeren Gegensatz als zu der Kirche, in der sie in Liverpool gearbeitet hatte, konnte man sich kaum vorstellen. Sie hatte wie eine Lagerhalle gewirkt mit ihrem ramponierten Backsteingemäuer, eine unfeierliche Stadtkirche ohne Friedhof, drum herum nur ein rostiger Zaun. Alles, was dort zählte, war, was man dort tat, was man an Engagement und Überzeugung mitbrachte.
Diese Kirche aber war bedeutend – historisch, denkmalgeschützt. Überaus schön, auch für Menschen, die nicht gläubig waren. Und sie verströmte eine freundliche Atmosphäre. Merrily fühlte sich von der Kirche geradezu willkommen geheißen.
Sie betrachtete den Altar durch den Lettner, in den Reihen von Apfelformen geschnitzt waren, schloss die Augen und sah eine dunkle, samtige Bläue vor sich. Mit einem Mal hatte sie fast so etwas wie Schuldgefühle, weil sie sich diese Beruhigung gestattete.
«Mom? Bist du das?»
Merrily öffnete die Augen. «Ja. Ich bin hier vorne!»
Jane steckte ihren Kopf durch die Tür, ihre Haare waren genauso dunkel wie das Eichenholz. «Machst du gerade etwas … Privates?»
«Und was zum Beispiel? Meine Güte!»
«Du
weißt schon
…»
«So was wie nach dem Rechten sehen? Abschließen?»
Merrily stemmte die Hände in die Hüften. Langsam nervte es sie ziemlich, dass ihre Tochter Gott für eine Art bösartigen Stiefvater zu halten schien. Würde das so bleiben, bis sie auszog und sie für ihre alte Mom in ihrer Soutane nur noch ein mildes Lächeln übrig hatte?
«Ich hab ihn, Mom.»
«Ja, dann lass ihn nicht vor der Tür stehen. Von wem reden wir überhaupt?»
«Wil. Wil Williams.»
«Oh.»
«Ein L. Er war Waliser.»
«Stimmte daran irgendwas nicht im siebzehnten Jahrhundert?»
«Mit
ihm
stimmte etwas nicht», sagte Jane, «im siebzehnten Jahrhundert. Allerdings glaube ich nicht, dass es mich besonders gestört hätte.»
«Toll», sagte Mom missmutig. «Genau das hat uns noch gefehlt, nicht?»
Sie saßen nebeneinander in der ersten Bank.
«Es gibt keinen Beweis dafür, dass er es
war
.» Jane kratzte auf dem dicken Lack der Ablage für die Gebetbücher herum. «Jedenfalls keinen
richtigen
Beweis. Ich meine, die Leute wurden damals ständig mit irgendwelchen obskuren Anschuldigungen verfolgt.»
«Aber nicht die Pfarrer. Glaub mir, solche Geschichten sind in der anglikanischen Kirche sehr selten.»
«Eigentlich sind
alle
interessanten Geschichten in der anglikanischen Kirche eine Seltenheit.» Jane grinste. «Andererseits bist du ja noch nicht lange im Amt.»
Merrily sah zu dem normannischen Gewölbe hinauf. Es wirkte in seiner Schlichtheit merkwürdig modern. «Also gut, warum haben wir davon nichts mitbekommen?»
«Weil es ein Einzelfall war, schätze ich. Außerdem kam es nie zu einem richtigen Untersuchungsverfahren, meint Lol.»
«Lol?»
«Der Typ in dem Laden. War reichlich nervös.»
«Du machst jeden nervös. Wo war denn Miss Devenish?»
«Hatte sich freigenommen. So, hier steht alles.» Jane zog einenkleinen Notizblock aus der Jacke. «Jahr: 1670. Das heißt also nach der Reformation, oder?»
«Du meinst vermutlich die Stuart-Restauration.»
«Egal. Nach Cromwell. Hat da Charles der Zweite regiert, mit der Lockenperücke? Jedenfalls waren die Leute in ländlichen Regionen ziemlich reaktionär und haben ständig nach Hexen und Teufelsanbetern gesucht, die sie verbrennen konnten. Der arme alte Wil hat ziemlich gut ins Fahndungsraster gepasst.»
«Soll heißen?»
«Ich erzähle es der Reihe nach, damit ich es richtig hinbekomme. Er war schon ein paar Jahre lang Vikar, o. k. ? Hat den Job vermutlich auf Empfehlung des Pfarrers von Credenhill bekommen, diesem Dichter …»
«Thomas Traherne.»
«Genau. Sie waren befreundet. Haben zusammen lange Spaziergänge unternommen und dabei über Moral und solches Zeug diskutiert, meint Lol. Aber dann hat Traherne einen neuen Job in der Nähe von London bekommen und war nicht mehr da, um den armen Wil zu verteidigen, und dann hat ihn jemand reingeritten, und zwar so richtig.»
Merrily lächelte. Janes Darstellung der historischen Abläufe war zwar
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