Frucht der Sünde
andere Leute schreiben, aber nicht für mich. Allein bei der Vorstellung, auf einer Bühne zu stehen, fange ich schon an zu zittern. Ich war nicht mal gut. Ich habe immer nur versucht, wie Nick Drake zu sein.»
«Und kein Mensch fand ihn damals gut. Inzwischen ist er eine verdammte Ikone. Das könntest du auch sein.
Wir
könnten es sein. Müssten nicht mal dafür sterben.»
Lol erinnerte sich daran, wie Karl einmal gegen seine Gitarre getreten und gebrüllt hatte: «Kannst du eigentlich mal was anderes schreiben als diesen rührseligen Scheiß?»
Karl zerdrückte die Bierdose in der Hand. «Ich will ja nur, dass du mal darüber nachdenkst. Wir müssten ja nicht auf Tour gehen, ich weiß ja, dass wir Probleme hatten.»
Probleme? «Meine Eltern haben danach nicht mehr mit mir gesprochen. Nie mehr. Drei Jahre später ist meine Mutter gestorben. Sie hatte nie mehr mit mir gesprochen, und bei der Beerdigung hat mir mein Vater den Rücken zugekehrt.»
«Hör mal.» Karl hatte jetzt echt keine Lust auf diese alten Scheißgeschichten. «Wir reden hier von
richtigem Geld
. Und wir sind inzwischen älter. Schreib mir sechs neue Songs, dann mischen wir sie mit ein paar alten. Wir könnten ja auch ein paar von Drake covern.»
Lol schüttelte den Kopf.
«Was hast du denn zu verlieren?» Karl machte eine weitausholende Geste. «Die Schlampe hat dich doch scheinbar ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Hat dir nur ein paar Schrottmöbel und die Katze dagelassen.»
«Nein. Sie hat nur ihre Kleidung und ein paar andere Sachen mitgenommen. Den Rest habe ich … weggeworfen.»
«Warum denn?»
Lol schüttelte den Kopf. Er konnte Karl nicht von Traherne erzählen, von der Suche nach Einfachheit, von der Bedeutung des Mondes und der Sterne.
«So was machen nur alte Leute», sagte Karl. «Wenn ihnen klar wird, dass sie’s nicht mehr lange machen. Ist ein schlechtes Zeichen, wenn du damit anfängst.» Er hielt inne und starrte Lol misstrauisch an.
«Sag mal, du hast irgendeinen Scheiß vor, stimmt’s?»
Lol schüttelte den Kopf.
«Verdammt.» Karls Augen leuchteten. «Du hast dir’s überlegt, stimmt doch, oder?»
«Das hat sich doch jeder schon mal überlegt.»
«So was kannst auch nur du sagen.»
Karl stand auf. «Hör mal. Ich gehe jetzt. Also denk über meinen Vorschlag nach. Außerdem versuche ich mir keine Sorgen zu machen. Wenn du’s bis jetzt nicht getan hast, wirst du es überhaupt nicht machen, schätze ich. Kurt Cobain, okay, der war ein Megastar, und jetzt ist er eine Legende. Aber Drake hat’s einfach zu früh gemacht … Und du? Ich meine, wer würde es überhaupt mitkriegen? Gibt’s überhaupt einen Menschen, dem es
nicht
scheißegal wäre, wenn du tot wärst? Einen einzigen Menschen, der dich vermissen würde? Wer sollte auf
dein
Grab wohl Blumen legen?»
Kurz darauf schlich sich Jane weg, klamm und verwirrt.
«Ich wollte Sie noch etwas fragen», sagte Merrily, während sie am Apfelgarten vorbei zurück ins Dorf gingen. «Es hat mit dieser Nacht zu tun.»
«Ah», sagte Lucy Devenish. «Die Dreikönigsnacht. Das war ja kein sehr schöner Empfang für Sie in unserer reizenden kleinen Gemeinde.»
«Nachdem es passiert war, habe ich Sie flüstern hören:
Ich wusste es, ich wusste es
.»
«Sie haben gute Ohren.»
«
Was
haben Sie gewusst?»
«Nur, dass jemand sterben würde.»
«In dieser speziellen Nacht?»
«Ich dachte, es würde früher passieren, aber als es dann Winter wurde und immer noch nichts geschehen war, ahnte ich, dass es unter ganz ungewöhnlichen Umständen stattfinden würde. Der Apfelgarten hat es mir erzählt, verstehen Sie?»
«Ja», sagte Merrily ruhig. «Ich verstehe.»
«Nein, das tun Sie natürlich nicht, und wer würde das auch von Ihnen erwarten? Ich hatte mein Leben lang mit Äpfeln und Apfelpflanzungen zu tun, vor allem mit dieser hier. Der Apfel ist die wichtigste Frucht von Herefordshire, seine Farben leuchten über der Erde, sein Geist weht über das Land. Und Äpfel sind sehr sensibel. Äpfel sind weise.»
«Und wissen, wann jemand sterben wird?»
«Oh ja.»
«Ich verstehe.»
Miss Devenish warf ihr einen Blick zu.
«Sorry.»
«Worauf Sie achten müssen, Merrily, ist untypisches Verhalten. Phänomene, die nicht der Jahreszeit entsprechen.»
Ein paar Apfelbäume ließen ihre Äste weit in den Weg hängen. Nicht gerade anmutig, dachte Merrily. Es waren unansehnliche Bäume mit borkiger Rinde und unregelmäßiger Form.
«Sie werden dieses Jahr voller
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