Für immer in Honig
Lebzeiten, und daß andererseits niemand ein solches Schild, gleicher Größe, gleicher Bronze, gleicher Wichtigkeit hier durchsetzt für die andern, die … na, sagen wir die Adolf Müllers dieser Gegend.«
»Adolf Müller«, brummte der Bürgermeister, ein Glas mit gutem Schottenwhisky in der großen Pratze. »Adolf Müller«, überraschte der gedächtnisstarke Rainer Utzer seinen Schirmherrn wieder einmal mit barock nutzlosem Wissen aus der Lokalgeschichte, »geboren am 11. No vember des Jahres 1872 als Sohn eines Schneiders, evangelisch getauft, aber natürlich aus der Kirche ausgetreten – immer ein sicheres Symptom für Leute, die nur wollen, daß die Toten ihre Toten begraben, für Leute, die ihre Heimat aus dem Boden reißen und in die Zukunft schießen wollen, die der Erde ihren Saft aussaugen möchten, Leute ohne Würde und Tiefe – der also, sage ich, war ein Sattler, selbständig, auch im Verband seines Handwerks aktiv, Mitglied der Sozialdemokraten, als die noch das waren, was später die Kommunisten wurden: die frechen Hauptmaulwürfe in der Heimaterde, Schädlinge Nummer eins des Vaterlands, wenn es nach Gesinnung statt Rasse ginge, was ich doch sehr empfehlen möchte. Neunzehnhundertdrei bis Neunzehnhundertdreiunddreißig Ortsvorsitzender der Partei, Neunzehnhundertsechs bis Neunzehnhundertzwölf Stadtverordneter, Neunzehnhundertzwölf bis Neunzehnhundertdreiunddreißig Stadtrat, zweimal im Landtag zwischen Neunzehnhundertneun und Neunzehnhunderteinundzwanzig. Hat sich der Konsumgenossenschaft Neunzehnhun dertdreizehn angeschlossen und wurde Geschäftsführer derselben, nahm am Ersten Weltkrieg teil und hat, wie so viele seiner unsauberen Sorte, dessen Ende als Chance gesehen, da, wo er lebte, alles umzupflügen, die Vergangenheit zu schänden: Mitglied des Volks- und Bezirksrats war er, als diese Räte sich bildeten, die, Sie verstehen, auf russisch ›Sowjets‹ hießen, und wurde dann, als eine Art Ordnung sich dennoch etablieren konnte, bis Neunzehnhundertvierundzwanzig stellvertretender Bürgermeister. Die Heimat hat er nicht kaputtgekriegt, und Neunzehnhundertdreiunddreißig haben ihn, na ja, meine Leute sogar mal eine Weile aus dem Verkehr gezogen, weggeschlossen, ein bißchen erzogen. Leider nicht beseitigt. Hatte ein bescheidenes politisches Comeback nach dem zweiten Krieg, den uns die Juden aufgezwungen haben, bis Achtundvierzig Stadtrat und stellvertretender Bürgermeister. Hat nie ein Haus gehabt wie Sie, kam nie von den Toten zurück. Und so soll es bleiben, nicht?«
»So soll es bleiben«, der Zombotiker hob sein Glas darauf.
Recht emsig, dieser Tage: Der Bürgermeister empfing häufig andere Zombotiker, nicht nur zuhause, sondern auch im Rathaus, nicht nur solche aus der Gegend, wo’s ja auch gar nicht so viele gab, sondern auch aus Städten im Norden, die angeblich Neuerungen der kommunalen Sozialpolitik mit ihm zu besprechen hatten: Eine Frau mit nur einem Auge – das andere war eine schwarze Kameralinse – behauptete sogar, vom Diakonischen Werk zu kommen. Das stimmte wirklich nur sehr indirekt; nämlich im Gegenteil.
Es ging bei all dem darum, die W zu bekämpfen, die Toten zurückzuholen und zugleich den Einfluß der W-Vorfahren einzudämmen: Wer ins Leben zurückkehren sollte und wer nicht, war zu bestimmen und durchzusetzen.
Ja: Ulanen, Gauleiter, Großbauern, Gründer.
Nein: Leute wie Adolf Müller.
3 Beliebte Forscherfrage seit Wilhelm Reichs einschlägigen Erkun dungen: Warum landet jemand bei den Nazis, wenn er oder sie doch eigentlich nichts davon hat, jedenfalls nichts Richtiges, weil doch die Welt dann, wenn die Nazis was zu melden haben, für ihn oder sie eigentlich nicht schöner oder genußreicher wird, sondern bloß unangenehmer? Wieso handelt jemand gegen die eigenen Klasseninteressen – haben nicht bloß Leute, denen viel gehört, Land oder Fabriken oder Aktien von Rüstungskonzernen oder privatisierte Knäste oder sonstige Sicherheitsdienstleistungsbetriebe – etwas von der Faschisierung der Gesellschaft?
Warum nur machen auch normale Menschen mit?
Weil die große Schwester von den Eltern immer mehr liebgehabt wurde als die, die zu den Nazis geht. Weil alles so langweilig ist hier. Weil er Angst hat. Weil sie ausgelacht wurde. Weil der große Haufen sich gut anfühlt, warm, etwa wie Daliegen in Scheiße, sofern man keine Nase hat. Weil man nicht mehr verprügelt und verlassen werden will – wie zum Beispiel hier bei diesem:
Das arme Schwein
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