Für immer in Honig
was gelernt, Achim, oder? Du hast ganz sicher was gelernt. Es ist nämlich was anderes, ob man fürs Hängen bloß präpariert wird, oder ob man’s erlebt. Weißt du, was Streicher gemacht hat, in Nürnberg? Entschuldige, Bildung: Julius Streicher, der Herausgeber des ›Stürmer‹, wichtiges Organ des NS – weißt du, was der getan hat, als er in der Zelle hörte, wie die Handwerker die Galgen zusammenbauten? Er hat gemosert. Er hat immer wieder gemosert: ›Ist unser Galgen bald fertig?‹, und dann hat er gesagt, er werde mutig die Stufen hochgehen, und seine letzten Worte stünden schon fest: ›Euch hängen die Bolschewiken!‹, sowie, natürlich, Ehrensache: ›Heil Hitler!‹«
»Und?« fragte Astrid Riedler, als wäre Behnke gar nicht da.
»Na ja, ›Heil Hitler‹ hat er tatsächlich gekräht, aber sie mußten ihn in langen Unterhosen übern Platz schleifen, er hat gezappelt, zwei muskulöse Neger waren es, nach allem, was man so hört. Ziemlich würdeloses Schauspiel – das meine ich, mit dem Unterschied zwischen Probe und Aufführung beim Hängen. Achim? Sag mal? Willst du gern sterben?«
Behnke schüttelte den Kopf so toll, daß Astrid Mühe hatte, die Hand weiter auf seinen Mund gepreßt zu halten.
»Willst du also statt dessen Kost und Logis, und eine neue Identität, die wir dir basteln müssen, vernünftig abarbeiten, und erheblich mehr Demut dabei zeigen als mein blöder Bruder, dem es anders als durch den Tod nicht einzubleuen war, daß er selber leider rein gar nichts ist und die große Sache alles?«
Behnke nickte, wie die andern noch nie einen Menschen hatten nicken sehen – Philip Klatt hätte es wiedererkannt, sie nannten es Headbanging.
Der Dokter war zufrieden, Astrids Hand zog sich zurück.
Behnke schluchzte.
Man verstand, daß das »danke« heißen sollte. Dann wurde die Schlinge um Behnkes Hals gelöst, seine Fesseln wurden entfernt, und er durfte mit anpacken, als man dranging, den toten Bruder des Dokters einzuholen, aus dem Nichts, wie einen Anker, den man aus führerlosem Schiff zum Spaß in die Nacht hinausgeworfen hatte, in ein ewiges Meer aus unnennbarer Zeit.
2 Ich muß zügig weitererzählen, wenn ich wenigstens einen Teil meiner persönlichen Schuld noch tilgen möchte. Aber vielleicht sollte ich sie wahrnehmen, die letzte Gelegenheit, bevor es weitergeht ins Grundsätzliche, um ein paar Dinge über Astrid Riedler festzuhalten, die man womöglich überraschend finden wird. Wir wissen jetzt ja, was Philip Klatt von Astrid wollte und was er von ihr bekommen hat. Wir wissen außerdem, was der Dokter von ihr wollte, wie das mit Klaus Utzer für sie anfing und auch fast schon alles, was daraus wurde. Aber interessiert eigentlich mal jemanden, was Astrid selber wollte?
Sie wollte es nämlich zurücknehmen, die Drachenfrau, die Rachedämonin, was sie getan hatte – fast alles sogar. Sie wollte es zurücknehmen, weil die Leute, bei deren Mißhandlung oder Ermordung sie mitgeholfen hatte, gar nichts für Astrids Familienhorrorleben konnten, wie sie plötzlich verstand, nichts für ihre blöde Geschichte mit dem verstorbenen Herrn Utzer d. Ä. und erst recht nicht nichts für ihren Haß auf alles mögliche.
Was wünschte sich Astrid Riedler noch?
Na, Liebe, das ist doch klar: Liebenkönnen, Geliebtwerdendürfen, das Nötigste, die Gnade.
Was verlangte sie von einem, den sie würde lieben können?
Er sollte nicht verkniffen sein und nicht unfähig, sich statt nur für sich selber auch für andere zu freuen, wenn die mal was erreichten, was änderten, was schöner machten. Sie wollte durchaus, daß der Geliebte sich mit der Welt maß, aber ohne schmutzige Tricks. Sie wollte, daß er was in der Birne hatte, sein Wissen aber nicht immer gleich für Weisheit hielt. Sie wollte, daß er wußte, daß der ganze Scheiß, in dem man lebte, natürlich, naturwüchsig, eine Täuschung war, in Wirklichkeit, aber daß er sich darüber dann auch wieder freuen konnte, über diesen ganzen großen zwiespältigen Traum, ohne ihm je ganz zu verfallen. Maskulin sollte er sein, aber mit ein bißchen Weiblichkeit dabei, wenn’s ging. Politisch eine Meinung haben: von ihr aus Kommunist sein, nur nicht dieses billige Agnostikertum, dieser eklige Quietismus des »Da kann man halt nix machen«.
Ein Gegner der Todesstrafe: Sie selbst war zu lange dafür gewesen, es hatte ihr nicht gut getan, das war klar zu sehen im Spiegel. Er sollte sich komplett hergeben können, sollte wissen, daß jemand
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