Für immer in Honig
als Robert Rolf das kleine Buch von Leviné angeschleppt hatte. Roberts und Jennifers Phantasie hat sich daran entzündet, aber doch nicht halb so lichterloh wie die von Philip. Wo ist das Büchlein eigentlich hin?
Jeden Dreckswisch hebt man auf, vom Reisepaß bis zur Bescheinigung des bestandenen Staatsexamens. Bis er das Buch in die Finger gekriegt hatte, waren seine Freunde vielleicht wirklich nur die »schlechte Gesellschaft« gewesen, für die seine Eltern sie bis zu ihrem Lebensende gehalten haben.
Danach verband die drei ein Wachtraum: Man kann die Welt verstehen. Wann werden wir frei sein?
Das hatten sie als Aufgabe verstanden, und gekämpft hatten sie dann auch, gegen … Kopfschmerzen.
Nein, nicht gegen Kopfschmerzen natürlich, aber die bekam Philip, wenn er sich zu intensiv mit diesen Geschichten befaßte. Er wünschte sich die Zeiten nicht zurück, als sie ihm wichtig, vernünftig und zwingend vorgekommen waren. Er wollte lieber wieder hintern Vorhang aus Scheitern und Ermüdung, in den Nebel der pausenlosen Sauferei.
Diese Sommermonate Mitte der Achtziger, da sie zu dritt das Levinésche Brevier studierten und in ihrer kleinen »Sekte« lebten, wie Frau Flasch das nannte, war zu dicht an … was anderem, das man …
Aua. Kopf.
Stattdessen also wieder putzige nostalgische Impressionen: Bubenstreiche, genau, nach dem Schwimmbad. Hier im Supermarkt, dem heutigen Edeka, hatten Robert und er Eier geklaut und sie dann von dort drüben, wo damals ein Modeladen war, gegen die Glasscheiben des Ladens geworfen. Und dann waren sie um ihr Leben gerannt. Wer den Tod nicht fürchtet, hat keine Angst, den Kaiser vom Pferd zu stoßen.
Ein fremder Mann stieß Philip an – schlaksiger Kerl, blaß und von Kopf bis Fuß schwarzgekleidet. Philip erschrak – der Gespenstische war aus dem Schlecker gekommen, auf dessen Treppenabsatz Philip, in seine Nachbilder versunken, unschlüssig gestanden war.
Was für eine Erscheinung: mehr Totenschädel als Menschenkopf überm Hemdkragen, die Sonnenbrille ließ sich rechtfertigen, grell, wie der Tag war, aber mußte sie so groß sein, so insektoid? Das viel zu sauber geschnittene helle Haar passte vielleicht zu einem achtzigjährigen Ex-Wehrmachtsgeneral, aber nicht zu diesem glatten Wachsgesicht, fahl, straff, alterslose Maske, schlimmer als die Porzellanfresse von Michael Jackson.
Philip fand, daß Rainer Utzer seinem Bruder trotzdem ähnlich genug sah.
Das war also der neue Nazichef im Städtchen – hat auch mal klein angefangen, naturgemäß, als Schulhofschrecken für die kleineren Kinder, besonders solcher mit ausländischen Eltern, aber jetzt kann man nicht meckern: paßt in jeden italienischen 70er-Jahre-Billig-Film über KZ -Ärzte, als Leichenficker.
Hört wahrscheinlich ähnliche Musik wie ich, dachte Philip dann noch, um sich ein bißchen abzuregen, und zuckte mit den Schultern. Von hinten, seines Weges schreitend, sah der Menschenfeind auch nicht mehr gar so grimm aus. Philip Klatt wandte sich nach Norden und ging in Richtung Altstadt, seinem Schicksal entgegen.
VIERTES KAPITEL
Die Männer sind schuld • Ein Plan, ein Geschäft und eine fertige Katastrophe
1 Zwei über dreißig Jahre alte Herren, nicht böse noch gut, mit besten Absichten, verschoben das Leben der fünfzehnjährigen Valerie Thiel auf ein seltsames Gleis. Das waren der ehemalige Musikzeitschriftenchef und jetzige Redakteur im Feuilleton einer der größten deutschen überregionalen Tageszeitungen Robert Rolf sowie der Popmusiker und Elektronik-Befürworter Michael Beer. Beide lebten gerade herzlich unzombotisch kregel vor sich hin, wenn auch nicht übertrieben glücklich, ja in Rolfs Fall nachhaltig verdrossen.
Ich will sie Euch beschreiben und erläutern: Rolf sah aus, wie man in seinem Beruf aussah – milde verwahrlost, aber unterm Fusselbart allemal angespannt, nicht dick, nicht dünn, oben am Schädel prononcierte Geheimratsecken, lief gern in Jeans rum, Hose wie Jacke, manchmal durfte es auch Leder sein.
Intellektuell hatte er schon einiges hinter sich, den meisten gängigen Mumpitz, den man in Büchern lesen konnte, über die zuviel geredet und geschrieben worden ist, hatte er fleißig mitgemacht, ohne eine hartnäckige, verschleppte Aufgeklärtheit je loszuwerden, mit der er sich bei frühem Kontakt mit vernünftigem Gedankengut angesteckt hatte. Seine Frau, die fern seiner dermaligen Kreise in der Schweiz lebte und zu der er nach über zehn Jahren mehr oder weniger loyalen
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