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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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Reminiszenzen an Bilder von Erik Bulatov, kyrillische Schrift auf Wolken, perspektivisch gestreamlined, zum ironischen Ruhm der verblichenen KpdSU, rot auf träumendem Himmel, »Ich gehe«, auf russisch ein einzelnes Wort, nach hinten flieht’s, und Malerei aus den Fünfzigern, Georgi Nisski, dieselbe Klarheit von ganz kalten Horizonten, bei ihm wohl noch eine Wahrnehmung erster Ordnung, und schaurig friedliche Buchten, darinnen Boote, blau, grün, eine herzweitende Meerenge, und dann der Einbruch der Protzmoderne, die Werke von Wladimir Sacharow, duchampeskes Installierungsgespreize, siehe, die ganze Geschichte der russischen Kunst zwischen Trennwänden, elitäre Exponate, Selbstähnlichkeitsmüdigkeit, Baß­ton und Dudelsack des Alkoholismus auch hier, wir beenden das Programm mit einer ad-hoc-Lesung aus den Werken des verdienten Nichtgenossen Kaminer.
    Hochtöne fehlten in dieser Russengedächtnismusik, sie war bloß ein Dröhnen von breitem Unwohlsein.
    Damals das, heute was?
    Der Himmel geschmolzen, die Menschen – zwei kamen ihr entgegen, es gurgelte aus ihnen, Judith sah nicht hin – hatten meist grünliche Haut und waren übrigens gar keine Menschen mehr. Alle Bewohner der Stadt lebten am Rande von etwas, das bald kippen mußte. Dann würde man fallen.
    Hinter Judith wieder ein Motor. Sie ging schneller, die Gefahr, auszurutschen, war ihr plötzlich weniger furchtbar als die, von diesem langsamen Auto eingeholt zu werden – was, wenn es der VW -Bus war, wenn untote Miliz raushüpfte und sie ergriff? Würde man sie in das Gefängnis bringen, das sie heute nachmittag sowieso aufgesucht hätte, zum Geldverdienen?
    Sie versuchte den dumpfen Beat der Erinnerung, der Assoziationskette wiederzufinden.
    Auf Wegen durch diese Stadt beschäftigte man sich am besten mit sich selbst, wie man das auch als Kind dauernd getan hat: Nach innen wenden sich Sträflinge , Unterdrückte, Kinder, Sklaven und Abhängige. Neugierig nach draußen zu spitzen, ist denen nämlich nicht von Nutzen.
    (Ein Witz, in Klammern, den sie nicht mitbekam, war, daß einer von den beiden Kadavern, die sich da eben gurgelnd an ihr vorbeigeschoben hatten, eine perfekte Illustration des alten abgedroschenen Fitzgerald-Monologs aus dem fussligen Mund von Judiths verschwundenem Exfreund hätte abgeben können, an den sie heute früh beim Essenholen gedacht hatte. Es handelte sich nämlich um den lang verstorbenen, aber umso unverdrossener vor sich hin zombelnden eminenten Wichtigprovokanten Schlingensief, unverzichtbare Stütze jener Kultur, die dem gegenwärtigen Nichtkrieg in exakt derselben Weise den Boden gedüngt und bereitet hatte wie die Kultur vor dem Ersten Weltkrieg in durchaus materialistisch beschreibbarer Weise eben jenem. »Schnorch!« sprach der tote Dramaturg, mit dem er auf der Suche nach Eßbarem, das er nicht groß zu verdauen brauchte, die Stadt durchwatschelte. »Ack!« erwiderte Schlingensief. Merke: Die große gegenkulturelle Debatte hielt also an, auch in schweren Zeiten.)
    Um ein Rußland von innen bittend, paßte Judith ihren Schritt dem jetzt wiederaufkommenden Schneefall an. Aus Schlappen wurde Schleichen. Ihr fiel ein, daß Ileana ja auch Halbrussin war: ihr Vater einst ein DDR -Stationärer der Roten Armee. Da nun riß der Russenfaden ab und die morphische Resonanz der Großberliner Noosphäre führte zwei Handlungsstränge ihrer Selbstbiographie, den wichtigen von Judiths Außen- und Innenleben einerseits und den unwichtigen um Herrn (in Klammern) Schlingensief andererseits kurz vor dem neuerlichen Überqueren der breiten Straße Unter den Linden, diesmal in Richtung Deutsches Historisches Museum, auf dem Weg zum Peibau, unverhofft zusammen: Der Gedanke an Ileana brachte Judith nämlich auf die letzte Vorstellung der Volksbühne, an der (in Klammern) Schlingensief einige seiner bahnbrechend langweiligsten Triumphe gefeiert hatte. Das Motto jener letzten Show: »Wir kommen wieder!«, seit fast vier Jahren uneingelöst, brachte Judith zum bitteren Schmunzeln. Dann dachte sie an die After-Show-Sause, eines der letzten wirklich großen, wirklich »transgressiven« (Dieter Fuchs) Events in der Stadt, in der Erdbeerbar. Ileanas engelhaftes Gesicht schwebte zwischen den Flocken, bißchen männlich, vage kriegerwitwenhaft, und sprach zu Judith: »Ich hab was geträumt.«
    Stimmt, das hatte sie gesagt, und ihre Lippen entenschnabelartig vorne zusammengepreßt, dann einen Schluck von ihrem Cocktail genommen, Judiths Gesicht

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