Für immer in Honig
nach Anzeichen davon abgesucht, daß die Aufmerksamkeit für die nun anstehende Traumerzählung geheuchelt sein könnte. Sie hatte keine gefunden und war also fortgefahren: »Das hat sich so ein … Wir waren im Widerstand, irgendwo in Frankreich im Zweiten Weltkrieg, und haben gegen Verräter und Faschisten gekämpft. Wir, das heißt … also, er und ich … aber er war andererseits meine Geliebte – Thommy, du erinnerst dich an den, wir hatten mal zwei Wochen was miteinander, vor dem … bevor sie kamen. Er war also eine Frau und ich ein Mann, anders als in echt, so, wie man so was in Träumen einfach weiß, inklusive den Widerspruch zum sonstigen Wissen, der ist einem irgendwie dann auch klar, aber man stört sich nicht dran. Und wie habe ich erkannt, daß diese Frau Thommy war? Ich glaube, am Mund, der hatte dieselbe Form. Er – sie – nannte mich Maurice und ich hatte so einen kleinen schmalen spitzen Fadenschnurrbart. Ich spielte Klarinette in einer total dekadenten Jazzband, bis wir uns im Gebüsch verstecken mußten, und da haben wir uns geliebt«, sie lachte, »also echt, als ob’s kein Morgen gäbe. In Wirklichkeit bin ich ja …«, sie sah sich um, zuckte entschuldigend mit den Schultern, »Bedienung in einer Cocktailbar für … Wiederauferstandene, und weiche den Händen aus anstatt den Kugeln, und er spielt in echt auch immer noch in seiner Band, die treten ab und zu auf, wie du weißt, im ›Dummheit‹ und im ›Wir brauchen keine Erziehung‹ in Kreuzberg. Ansonsten schraubt er Autos zusammen, für Essen und Miete, und muß sich mit Arschlöchern rumärgern statt mit Sprengkörpern.«
Judith hatte beeindruckt geschwiegen. Nach einer angenehmen Inselminute im Lärm setzte Ileana hinzu: »Aber es könnte ja trotzdem so sein wie in dem Traum, weißt du: dankbar, daß man lebt, zusammen kämpfen, Seite an Seite, sich verstecken im Gebüsch, aus dem Gebüsch heraus schießen, sich lieben im Gebüsch, als gäbe es … kein Morgen. Wir könnten einander versprechen, wenn einer von beiden stirbt, treffen wir uns in einem anderen Leben, bloß nicht hier. Ich und mein Liebster.«
Atmen, gehen, und die Worte waren ein neues Mantra: »Sich verstecken im Gebüsch … schießen aus dem Gebüsch … Liebe im Gebüsch … als gäbe es kein Morgen …« Aber wo, fragte sich die Kollaborateurin, gibt es im ewigen Winter hier ein Gebüsch, das nicht vereist, verschneit oder vor den Blicken, die es erkennen könnten, vom Regen verhüllt ist?
3 Die große Erdgeschoßhalle des Peigebäudes war sauber aufgeräumt, die Wände leuchteten frisch gestrichen.
Judith, die ihre Handschuhe und Mütze abgestreift und in die Umhängetasche gestopft hatte, fand es trotzdem dreckig hier. Daß es nach Nieren und Leber, auch ein bißchen nach Urin roch, mußte man auch erst mal aushalten. Es würde noch eine gute Stunde dauern, bis sie drankäme und ihre Akten erhielt, ganz nach den Spezifikationen, die man ihr in der Kerkerverwaltung gestern ausgehändigt hatte. Vor ihr in der Kolonne standen zwei junge Erwachsene in Skijacken und viel zu weiten Military-Hosen, der eine mit rasiertem Kopf wie sie, der andere, offenbar ohne Angst vor Seuchen, mit spinnenbeinig dünnen Pseudodreads.
Glatze sprach zu Dickhaar: » NATO -West, das ist ein Mexican Standoff, Junge. Mark my words.«
»Tod vom Himmel. Feuer und Schwefel«, nickte sein Kollege, »Sodom und Gomorra. Satellitenwaffen. Plattformen. Kreuzfeuer. Eine verurteilte Stadt, über der das Schwert des Damokles hängt.«
Sie quatschten sich groß. Judith hätte sich wegducken mögen, oder fliehen, nach draußen, oben, wohin denn, nur weg. Zwar war die freie lose Rede in der Stadt nicht eingeschränkt, man wurde nur zur Rechenschaft gezogen für das, was man tat, nicht für das, was man plapperte – sogar die Flug- und Klebezettel der Résistance wurden in gewissen Grenzen geduldet, d. h. nur sehr saumselig aus dem Straßenbild entfernt, wenn es mal neue gab –, aber wer wie Judith im Gefängnis arbeitete, wurde mürrisch, wenn freie Rede so aufschneiderisch allwissend daherkam wie hier. Sie zerknüllte auch, wenn sie einen in die Finger kriegte, Zettel mit den Logozeichen Faust und Messer, wollte nichts wissen von den Schriften über die Heldentaten der Messerfrau, dieses Pin-up vergeblichen Kampfes.
Denn war es, da alle Prognosen übers baldige natürliche Ende der Zombiebesatzung, über Verwesung nach drei Jahren und den zweiten Tod, so vollständig unwahr
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