Für immer in Honig
die Sekretärin des Direktors, mit dem seine Frau schlief, mitgeteilt, als Philip irgendwelche Papiere, die er für die Kündigung brauchte, nicht beibringen konnte.
Philip war ausgerastet: »Toll, für einen Idioten also, einen von diesen toten, verdorbenen, geistlosen … wissen Sie was? Lecken Sie mich ordentlich und gut organisiert am Arsch.«
So ging das, so machte man das: sich ausklinken aus der Welt.
Ob Philip inzwischen restlos die Fühlung mit der Wirklichkeit verloren hatte, darüber konnte nur noch der liebe Gott befinden. Der hätte, was in Philips Kopf vorging, zum Zweck der Beantwortung dieser Frage eventuell mit den Gedankengängen Rainer Utzers abgeglichen, die diesen unheimlichen Mann beschäftigten, als er am Tag von Philips Rückkehr ins Städtchen vor dem Schlecker-Markt den unordentlichen, schlecht organisierten Mathematiker anrempelte.
Ohne ein Wort der Entschuldigung setzte Utzer nach dem groben Schulter-Arm-Kontakt seinen Weg Richtung Bahnhof fort, wo er sich in der »Sonnenblume«, an deren ungemütlichstem Tisch Philip gerade sein wenig raf fi niertes Mittagessen eingenommen hatte, mit Astrid Riedler treffen wollte. Der bleiche junge Mann, den seine Freunde »Dokter« nannten, dachte an diesem Vormittag schon geraume Zeit lang über eine Handvoll Grammatikfehler nach und fragte sich, ob die Juden vielleicht dran schuld waren.
Der Dokter war nämlich nicht nur mit einem ausgesprochen leistungsstarken Gedächtnis gesegnet, sondern auch ein Pedant. Die Patzer, über die er grübelte, stammten aus zwei in seinen Augen politisch vertrauenswürdigen Schriftstücken: der National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung des Münchner Verlegers und Vorsitzenden der Deutschen Volksunion Dr. Gerhard Frey und dem politischen Testament des Führers, Reichskanzlers und Feldherrn Adolf Hitler, aufgesetzt am 29. April 1945.
Den Fehler in der Nationalzeitung hatte Utzer eben erst bemerkt, beim späten Frühstück im Café am Rathausplatz. Das Exemplar der neuesten Ausgabe, das er zu dieser Morgenmahlzeit studiert hatte, klemmte noch unter seinem linken Arm, als er den Schlecker-Markt verließ.
Der Dokter war ein eifriger, geübter und rascher Leser – die tausendzweihundert Seiten der Neuausgabe des »Herrn der Ringe« in der überarbeiteten deutschen Übersetzung hatte er in anderthalb Wochen gepackt, sechshundert Seiten Goebbels-Tagebücher an vier Tagen, und der »Stern der Erlösung« von Franz Rosenzweig, Bestandteil seines ausgedehnten Judaica-Curriculums, immerhin auch gut fünfhundert Seiten dick, hatte gerade für ein verlängertes Osterwochenende ausgereicht, an dem Utzer ohne übertriebene Mühe außerdem einen siebzehnseitigen Brief an seinen inhaftierten Bruder Klaus geschrieben hatte.
Wenn der Dokter also eine Zeitung las, dann nahm er für gewöhnlich in den drei Stunden, die er sich dafür Zeit nahm, so gut wie alles auf, was geboten war: Kleinanzeigen, Leserbriefe, Infokästen, Werbung.
Im Fall der National-Zeitung bedeutete das, daß Utzer auch die überall im Blatt verstreuten, von ihm mit gelindem Abscheu als »winselnd« empfundenen Schnorranzeigen, Abonnementsaufforderungen und ähnliches studierte, weil diese Textchen doch auch Beispiele mehr oder weniger politisch gemeinter Propaganda waren. Daran ließ sich immer was lernen, und sei’s, wie man es bestimmt nicht machen sollte – nämlich zum Beispiel so wie in dem Kastentext, der Utzer beschäftigte, als er Philip Klatt über den Weg lief.
Darin sollte der vermutete Widerwille aller Leser des Organs gegen die »Weltmachtsambitionen« der Amerikaner und ihre Kriegsführung von Asien bis zum Golf von Arabien zum Abonnementgrund umgeschmiedet werden, und das las sich dann wie folgt: »Wenn Sie gegen Krieg und Massenmord sind, dann müssen Sie jetzt die National-Zeitung in der größtmöglichen Anzahl verbreiten. Die National-Zeitung ist eines der ganz wenigen Medien, welches konsequent und mit vielen unwiderlegbaren Argumenten …« Weiter war Utzer beim Lesen nicht gekommen. Denn das war nun einfach ärgerlich.
Sicher: Dieser Fehler begegnete einem heutzutage nicht selten. Den Numerus-Anschluß richtig hinzukriegen, also auf die Wendung »eines der ganz wenigen Medien« korrekt »welche« folgen zu lassen, statt das verbockte »welches«, das konnte man heute von kaum einem Deutschen mehr erwarten.
Andererseits: Hatte man nicht Vorbild zu sein, vor allem dann, wenn der »Buchservice« des Freyschen Verlags wenige Seiten
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