Gayheimnisse reloaded (German Edition)
in Port Grainville übergeben? Das würde ihm sicher ein paar lobende Worte einbringen. Aber wollte er das wirklich?
Jean stieß angewidert die Luft aus, nicht nur, weil er die Kugel nicht zu fassen bekam, sondern auch weil er daran denken musste, wie sehr er von dieser Revolution enttäuscht war. Sie hatten mit solch fantastischen Idealen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – angefangen, und jetzt waren sie bei Gerichtsverhandlungen, deren Urteile nicht angefochten werden konnten, angekommen. Bei Willkür und Terror, mindestens ebenso schrecklich wie unter dem altem Regime.
Aber er hatte auch keinerlei Verpflichtung, einem Aristokraten zu helfen. Denn nur, weil dieser Stand so lange auf seine Privilegien gepocht hatte, war es ja überhaupt erst zu den Ereignissen der letzten Jahre gekommen.
Die blutverschmierte Kugel rutschte endlich aus der Wunde und Jean beschloss abzuwarten, wie sich die Geschichte entwickelte. Entscheiden konnte er sich auch noch, nachdem er herausgefunden hatte, warum dieser Mann ausgerechnet seinen Fußboden mit Blut besudelt hatte. Er verband die Wunde, zog dem Mann eines seiner Hemden an, die Stiefel und die verdreckte Hose aus und hievte ihn ins Bett. Er weichte die schmutzige Kleidung ein und säuberte die Holzbohlen. Als er ein Stöhnen vernahm, setzte er sich auf die Bettkante und wartete.
Der Unbekannte öffnete langsam wunderschöne, braungrüne Augen. Ihr Blick traf sich, und Jean las für eine Sekunde Todesangst darin. Dann senkten sich die Lider wieder, und als der Mann die Augen erneut aufschlug, war sein Blick leer und ausdruckslos. Er räusperte sich, brachte aber nur ein Krächzen heraus, und Jean hielt ihm ein Glas Wasser hin.
Vorsichtig trank der Mann ein paar Schlucke, dann versuchte er erneut zu sprechen. »Danke«, wisperte er und neigte sein Kinn in Richtung des verbundenen Armes.
»Keine Ursache. Aber eine ganz schöne Sauerei hast du da angestellt.«
»Tut mir leid.«
»Schon gut.« Jean winkte ab. »Übrigens, ich bin Jean Le Nôtre – und nein, ich bin nicht mit dem berühmten Gartenbaumeister verwandt.«
Ein müdes Lächeln stahl sich auf die Lippen seines Gastes und damit, dass er die Anspielung verstanden hatte, bestätigte er Jeans Vermutung, dass er mehr war, als er vorgab zu sein.
»Henri Dupont – und ja, ich bin mit den Dupont in Marseille verwandt«, stellte sich der junge Mann schleppend vor.
»Dupont?« Jeans Augenbrauen gingen nach oben. »Wenn dieser Allerweltsname stimmt, fresse ich einen Besen.«
»Guten Appetit«, gab Henri erschöpft, aber herausfordernd grinsend zurück.
Wider Willen musste auch Jean lächeln. Dann wollte er wissen: »Wie kam es dazu?« Er zeigte auf den Oberarm.
»Wilderer«, meinte Henri ohne zu zögern und nickte bestätigend dazu.
»Da war aber eine Pistolenkugel in deinem Arm. Wilderer benutzen doch wohl eher Gewehre oder Schrotflinten.«
»Hmm, dieser wohl nicht«, versicherte Henri ihm liebenswürdig.
Jean schnaubte ungläubig. Er erhob sich vom Bett und fragte: »Hast du Hunger, Bürger ?«
»Nur wenig.«
»Ich wärme uns den Rest der Suppe von gestern auf«, entschied er.
Ja, er würde Henri Wie-auch-immer noch ein Weilchen bei sich behalten, der Mann versprach Unterhaltung.
Als Jean ihm den Rücken zudrehte und am Herd herumhantierte, atmete Henri erleichtert auf. Er merkte, wie seine Hände zitterten, und das kam nicht nur von den Schmerzen in der heftig pochenden Armwunde. Er war wehrlos, und wenn Le Nôtre gewollt hätte, hätte er ihn töten können. Ganz war die Gefahr noch immer nicht gebannt, denn außerordentlich überzeugend hatte seine Geschichte wohl nicht geklungen.
Aber er lebte noch und das war ja auch schon mal etwas. Er musterte Le Nôtre und konnte seinen unfreiwilligen Gastgeber nur schwer einschätzen. Er war groß und hager, die braunen Haare trug er noch in einem altmodischen Zopf, obwohl er ihm kaum älter als er selbst zu sein schien. Die Hände zeugten von schwerer Arbeit, aber die ganze Art, wie er sprach, wie er sich gab, legten nahe, dass er eine umfassende Ausbildung genossen hatte. Er hätte gern gewusst, was er vor der Revolution gemacht hatte.
Müde drehte Henri den Kopf etwas zur Seite und schaute sich im Zimmer um. Holzgetäfelt und zweckmäßig eingerichtet mit Bett, Tisch, drei Stühlen, einem Herd und zwei Schränken. Es war alles einfach und sehr ordentlich und verriet ihm gar nichts über seinen Bewohner. Henri sah, dass sein Mantel sauber zusammengelegt
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