Gefaehrten der Finsternis
tatsächlich sehr hungrig. »Ich wäre zwar auch sonst nicht vor Hunger umgefallen. Und wenn ich geflohen bin, werde ich schon dafür sorgen, dass man mich nicht wieder einfängt. Zufrieden? Jetzt gib mir die Botschaft.«
Ayanna zog ein Blatt Papier aus den Falten ihres Gewandes und hielt es ihm hin. Lyannen riss es ihr beinahe aus der Hand, faltete es hastig auf und las.
Die Botschaft war von Ventel. Die zierliche, elegante Handschrift seines Bruders war unverwechselbar. Das Briefchen war nicht sehr lang und wie die vorigen anscheinend in aller Eile verfasst:
Wir treffen uns heute Nacht.
Wenn du Erklärungen brauchst, frag Ayanna. Ich hoffe, es läuft alles nach Plan.
In aller Eile, der Deine (Ayanna drängt mich)
Ventel
Lyannen blickte von dem Papier auf und richtete seine Augen auf Ayanna, die immer noch lächelte. »Heute Nacht?«
»Heute Nacht«, bestätigte Ayanna. »Aber mach dir keine Sorgen«, fügte sie hinzu, als sie Lyannens Unruhe bemerkte. »Es wird alles nach Plan laufen, wie dein Bruder es sagt.«
»Hast du auch mit ihm ›Freundschaft‹ geschlossen?«, fragte Lyannen mit hörbarer Ironie in der Stimme.
»Nicht so, wie du das meinst«, gab Ayanna genauso zurück. »Und ich bitte dich, hör endlich damit auf, mich aufzuziehen. Ja gut, Irdris hat dir erzählt, wie es um mich steht, und ich würde ihr am liebsten den Hals dafür umdrehen. Aber das ist noch lange kein Grund, mich ständig mit Spott zu überhäufen. Außerdem habe ich keineswegs vor, mir jeden Ewigen anzulachen, der mir über den Weg läuft. Ich bin einfach nur verliebt.«
»Wer hätte das je bezweifelt?«, fragte Lyannen lächelnd.
»Du führst mich in Versuchung, dich für den Rest deiner Tage einfach hierzulassen, Herr Halbewiger!« Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger, während sie sich zum Gehen wandte.
Wir treffen uns heute Nacht.
Slyman drehte das Blatt in seinen Händen. Der Raum war im Halbdunkel versunken und wurde nur von einer Öllampe, die in einer Ecke stand, ein wenig erhellt. Rabba Nix, sein einziger Gefährte im Unglück, saß ganz in seiner Nähe und wandte ihm den Rücken zu. Er schlief. Nein. Besser gesagt, tat er so, als schliefe er, denn Slyman wusste genau, dass er wach war. Er empfand Dankbarkeit für den Ka-da-lun. Nur wegen seiner witzigen Bemerkungen hielt Slyman dem Druck ihrer Situation stand. Für ihn war es ein großer Trost gewesen, dass er sich nicht von seinem Freund hatte trennen müssen.
Dafür musste er sich bei Ayanna bedanken. Die Amazone hatte ihm gegenüber immer eine unglaubliche Freundlichkeit an den Tag gelegt. Angefangen damit, dass sie Rabba Nix rettete, den ihre Mitschwestern einfach so umgebracht hätten. Und dann hatte sie dem Ka-da-lun erlaubt, in seiner Nähe zu bleiben. Sie
hatte ihm die Botschaften von Ventel und Irdris gebracht, was auch für sie riskant war. Und oft blieb sie bei Slyman, um mit ihm zu reden, und es gelang ihr immer, ihn aufzurichten. Sie war stets nett und offen, und ja, es stimmte, Slyman mochte sie sehr. Wirklich. So sehr, dass er sich schon ein bisschen dafür schämte. Gerade eben hatte ihm Rabba Nix auf den Kopf zugesagt, er sei in sie verliebt.
»Ich? Nicht im Geringsten!«, hatte Slyman behauptet und so getan, als sei er beleidigt. Allerdings hatte er einen roten Kopf bekommen.
»Und was ist so schlimm daran?«, hatte Rabba Nix gefragt. »Ist dir das etwa peinlich?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht verliebt bin«, hatte Slyman erwidert. »Außerdem ist sie eine Sterbliche.«
»In der Goldenen Stadt haben viele Ewige Sterbliche geheiratet«, bemerkte Rabba Nix.
Darauf hatte Slyman nichts antworten können.
Wir treffen uns heute Nacht.
War es schon Nacht? Ihr Raum war fensterlos; er konnte es nicht wissen. Slyman war unruhig und aufgeregt. So nahe schien schon die Freiheit! Aber es war riskant. Und wenn man sie entdeckte? Er fühlte sich so klein und schutzlos. Er musste unbedingt mit Ayanna reden!
»Rabba Nix«, sagte er stattdessen.
Der Ka-da-lun drehte sich sofort zu ihm um, ein Beweis dafür, dass er wach war. Seine mandelförmigen Augen leuchteten im Schein der Öllampe, während er Slyman fragend ansah.
»Glaubst du, es ist schon Nacht?«, fragte Slyman leise.
»Und wie soll ich das wissen?«, fragte Rabba Nix und zuckte mit den Schultern. Seine schmalen Lippen kräuselten sich in einem Lächeln. »Du bist nervös, was?«
»Ja, sehr«, antwortete Slyman ehrlich. »Ich würde alles dafür geben, wenn jetzt der
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