Gefangene der Dunkelheit
gehasst hätten. Sie hatte keinen Beweis für seine Unterdrückung gefunden, keine Geschichten über Grausamkeit oder Folter gehört. In Wahrheit war er für einen normannischen Lord anscheinend recht tolerant gewesen. »Wir haben sie befreit«, schloss sie und verdrängte diese Gedanken.
»Und haben dabei ihre Ernten verdorben«, antwortete er. »Hast du die Speicher gesehen, kleine Schwester? Wir werden kommendes Weihnachten Hunger leiden. Angesichts dessen erschienen DuMaine und seine Herrschaft vielleicht nicht so hart.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Ein Sklave kann mit einem gefüllten Magen zufriedengestellt werden.«
»Das glaubst du nicht wirklich«, erwiderte sie.
»Nein?« Er blickte auf den Hof hinunter. »Wir brauchen Hilfe, Siobhan. Jemanden mit einem Adelstitel, der deinen Anspruch an den König bezeugen kann, jemanden, der uns helfen kann, unsere Leute zu ernähren.«
»Der Baron von Callard.« Kalte Verzweiflung legte sich wie eine nasse Decke auf sie. Wenn Sean die Hoffnung verlor, welche Chance hatte sie dann noch, ihre zu bewahren?
»Gaston ist ein Schurke und außerdem eine schleimige Kröte«, sagte er und wandte sich ihr wieder zu. »Aber sein Herr nicht. Der Vater des Barons war ein Normanne, aber seine Mutter war Engländerin, ein Kind dieser Wälder wie auch unsere Mutter. Er wurde hier geboren und war niemals bei Hofe.«
»Wie kann er uns dann helfen?«, fragte sie und war bemüht, nicht missmutig zu klingen.
»Sein Vater war ein mächtiger Verbündeter von König Heinrichs Vater«, erklärte er. »Der König hat dem Baron häufig seine Gunst erwiesen und ihm sogar Ländereien in Frankreich angeboten, aber der Baron wollte seine Heimat nicht verlassen. Er hasst die Normannen fast ebenso sehr wie wir, obwohl sein Vater einer von ihnen war. Er glaubt wie wir, dass die Menschen dieser Wälder nicht als Leibeigene, sondern als freie Menschen geboren wurden.«
»Er selbst hat keine Leibeigenen?« Sean klang so hoffnungsvoll, dass sie es hasste, ihm zu widersprechen. Aber die Schilderung seines Gönners klang ein wenig zu gut, um wahr zu sein. Besonders wenn sein eigener Mann, Gaston, entsetzliche Angst vor ihm zu haben schien.
»Ja, aber nicht so, wie DuMaine und seinesgleichen sie haben wollten, nicht als Sklaven, die ausgebeutet und fallen gelassen werden«, antwortete er. »Sie dienen ihm, weil er sie beschützt, und niemand ist gezwungen zu bleiben. Er behandelt sie gerecht, und sie sind ihm im Gegenzug treu, genauso wie die Menschen hier einst unserem Vater treu waren.« Ihre Miene musste ihren Zweifel offenbart haben. »Was glaubst du, was geschehen wäre, Siobhan, wenn wir DuMaine einfach beseitigt und diese Menschen fallen gelassen hätten, was glaubst du, was dann mit ihnen geschehen wäre?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. Genau das hatte sie sich schon häufig gefragt, aber sie hatte sich niemals erlaubt, bei dem Gedanken zu verweilen. Sie hatte einfach angenommen, dass Sean wusste, was er tat, dass er einen Plan hatte, mit dem er alle seine Versprechen einlösen könnte. War dieses Bündnis der Plan?, fragte sie sich nun. Sie hatte schon immer gewusst, dass der Baron Seans Verbündeter war, dass sie sich sogar ohne ihr Wissen getroffen hatten, aber sie hatte nie erkannt, für wie wichtig ihr Bruder diese Hilfe wirklich hielt.
»Der König hätte einen weiteren Höfling genau wie DuMaine geschickt, um seinen Platz einzunehmen, einen normannischen Lord, von dem sie wahrscheinlich für DuMaines Tod bestraft worden wären. Vermutlich hätte er unzählige Hütten niederbrennen und viele brave Männer aufhängen lassen«, fuhr er fort. »Ist es das, was unser Vater wollte?«
»Natürlich nicht.« Die Sonne ging unter und bemalte die Mauern von DuMaines weißem Schloss purpurfarben und rot. Unten im Hof konnte sie Meister Silas und seine Steinmetze ihre Werkzeuge zusammensuchen sehen, um sie für die Nacht fortzuräumen. Die hölzerne Palisade, die sie und die Übrigen mit ihren flammenden Pfeilen so mühelos niedergebrannt hatten, war inzwischen fast vollständig durch Stein ersetzt worden. Das Schloss würde beim ersten Schneefall fertiggestellt sein, genau wie Sean es wollte. »Wenn Tristans Schloss fertig ist, wenn der Gesandte des Königs kommt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass er an Tristans zufälligen Tod glaubt«, sagte sie und begriff endlich.
»Genau.« Sie wandte sich um und sah Sean lächeln. »Erkennst du jetzt, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher