Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
weiteren Moment zu verharren, kletterte die Oberländerin durch das Loch in den angrenzenden Tunnel. Hierher! , wollte sie rufen. Diesen Pfad mussten sie einschlagen. Doch die Nadel raubte ihr immer noch die Sprache, wenngleich sie ihr keine Schmerzen mehr zufügte. Die Decke wölbte sich nun so hoch auf, dass sie sie selbst mit ausgestreckten Armen nicht erreichen konnte. Die Schnitzereien liefen in einem niedrigen, schmalen Band an beiden Wänden entlang. Der Schatten würde sie hier nicht aufspüren, davon war sie überzeugt. Undeutlich hörte sie Brandl rufen.
»Wo ist das Mädchen?«
Maruha stieß einen Schrei aus. Ihre Stimmen klangen weit entfernt, wie Worte, in eine Kupferschüssel geflüstert. Leises Fluchen. Hektisches Treiben.
»Sie stand genau dort …«, setzte Brandl an und dann: »Seht!«
Ausrufe. Gemurmel. Stille.
»Eine zugemauerte Wand!« Das war Maruha. »Heb mich hoch, Collum, damit ich hinübersehen kann.«
Scharren. Die Oberländerin drehte sich um und erhaschte
einen Blick auf die Zwergin, die sie durch das Loch anstarrte. Sie lächelte Maruha an, versuchte ihr mimisch zu verdeutlichen, was sie nicht in Worte fassen konnte: Welch wunderbaren Ort sie entdeckt hatte. Ihre gelassene Zufriedenheit wuchs. Sie alle würden hier finden, wonach sie trachteten, oder wenn nicht genau hier , dann ganz in der Nähe. Vielleicht am Ende des Tunnels. Maruha verschwand. Ein fieberhaftes Rascheln von Pergament war zu hören.
»Ravennas Pfad«, rief Collum. »Einer der Pilgerwege zur Kristallstadt! Seht nur, er ist hier auf der Karte eingezeichnet. Er muss zugemauert worden sein, als sie die Stadt abriegelten.«
»Er ist sehr breit und gerade, mit wunderschönen Gravuren entlang der Wände. Das Mädchen ist dort drinnen.« Maruha.
»Dann sollten wir ihr folgen«, zischte Brandl, »und das Loch hinter uns verschließen: Schnell! Bevor sich die Hunde einen Weg bahnen. Wir können uns verstecken, bis sie weiterziehen.«
Erneutes Scharren. Der jüngste Zwerg schlängelte sich durch das Loch und fiel mit einem atemlosen Uff zu Boden. Das Mädchen bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Offenkundig verwirrt, starrte er sie einen Moment lang an, schüttelte dann jedoch den Kopf, als sei er zu besorgt, um einen weiteren Gedanken zu vergeuden. Aber dem Mädchen entging nicht der Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht, als könne auch er sich nicht der eigentümlichen Besinnlichkeit des Pilgerweges entziehen. Nachdem er sich aufgerappelt und auf die Zehenspitzen gestellt hatte, rief er Maruha und Collum frohgemut zu: »Reicht mir die Ziegel und das Gepäck!«
Immer noch lächelnd drehte sich die Oberländerin weg und
wanderte den Korridor hinab, folgte einem sanften, wenn auch erbarmungslosen Sog. Einem Ruf. Ein süßes, unbeschreibliches Glücksgefühl überkam sie. Sie strich mit den Fingern über die Felsbilder: kleine, gedrungene Gestalten, zweifellos Zwerge; hier und da größere Gestalten, die ihr selbst glichen; und gelegentlich eine Figur, die sie alle überragte, von menschlicher Gestalt, doch sonderbar gewandet.
Und dennoch bedeutete ihr das alles nichts, wenngleich sie nun überzeugt war, eine Antwort auf jede ihrer Fragen zu erhalten, gelänge es ihr nur, die Quelle dessen auszumachen, das sie zu sich rief. Hinter ihr hatte Collum Maruha durch den Spalt gehievt und ließ sich anschließend von ihr auf die andere Seite zerren. In wilder Hast schoben die beiden Zwerge die Ziegel zurück an ihren Platz, während Brandl mit einem verzückten Grinsen auf dem Gesicht die Lampe vor das Fries hielt. Das Mädchen entfernte sich immer weiter von der zugemauerten Wand und den Zwergen.
»Nein, wartet! Es ist zwecklos!«, schrie Brandl jäh, sein Lächeln war wie weggeblasen. »Die Hunde werden wissen, dass wir uns hier versteckt halten, sie nehmen unsere Witterung auf.«
»Nicht, wenn wir ihre Sinne verwirren«, erwiderte Maruha grimmig.
Mit einem Blick über die Schulter gewahrte die Oberländerin, wie die Zwergin eine Glasphiole aus ihrem Bündel fischte. Schnell wich Brandl zurück. Auf Collums Schultern schüttelte Maruha das bernsteinfarbene Fläschchen, bevor sie es durch den letzten verbliebenen Spalt warf. Ein phosphoreszierendes Leuchten blitzte für den Bruchteil einer Sekunde auf. Hustend
bedeckte Maruha die Nase mit ihrem Ärmel, schob den letzten Ziegel ins Loch und sprang hinunter. Collum geleitete sie zu Brandl. Augenblicklich wurde der Gestank von verschimmeltem Giftpilz
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