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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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erinnerte, ein Flechtteppich, der im Lauf der Jahre plattgetreten worden war. Die Wände waren mehrmals überstrichen, zuletzt in einem blassen Blau, die Fenster jedoch waren hübsch – große Sprossenfenster mit weißen Gazevorhängen an den Seiten. Ein paar Bilder hingen an den Wänden, kitschige Gebirgslandschaften, von Dilettanten für Touristen gemalt, vermutete ich. Ich nahm sie herunter und stapelte sie hinter dem Sofa. In einer Küchenschublade entdeckte ich einen Hammer, mit dem ich die Nägel entfernte. Die Wände müßten kahl sein, fand ich. Nichts konnte mit diesem Blick konkurrieren.
    Als nächstes ging ich ins untere Schlafzimmer. Ein schmales Bett mit einem cremefarbenen Chenilleüberwurf stand darin und in der Ecke eine hohe Ahornkommode. Da könnte das Kinderbett hineinpassen, dachte ich, überlegte aber gleichzeitig, ob ich Caroline nicht bei mir im oberen Zimmer schlafen lassen sollte.
    Ich ging die Treppe hinauf, um nachzusehen, ob in dem anderen Zimmer Platz für ein Kinderbett wäre. In der Mitte stand ein großes Doppelbett mit einem geschnitzten Kopfbrett aus Ahorn. Das Bett war ungewöhnlich hoch – ich brauchte kaum die Knie zu beugen, um mich darauf niederzusetzen. Auf ihm lag ein schwerer weißer Quilt mit einem raffinierten Muster in Rosé und Grün, das aus Hunderten kleiner Flicken zusammengesetzt war. Ich strich mit der Hand über den Stoff und betastete mit den Fingern bewundernd die kunstvolle Arbeit. Wer hatte wohl diesen Quilt gemacht und wann? Julia als junge Frau? Julias Mutter? Die Witwe, die nach Boston zurückgekehrt war? Rechts vom Bett stand ein Nachttisch mit einer Lampe. Und links durch das Fenster hatte man einen noch weiteren Blick aufs Meer hinaus als vom Rasen aus. Ich setzte mich auf das Bett und sah hinaus auf die Meereslandschaft. Im Sommer würden sich die Gazevorhänge über dem Bett bauschen.
    Von hier aus konnte ich die Boote, die im Kanal lagen, aus einer anderen Perspektive sehen – die lackierten Bodendielen, die im Heck verstauten Fallen, das gelbe Ölzeug, das in den Ruderhäuschen hing. Ich konnte auch das Ende der Landzunge sehen, wo am Fuß der scharf ins Wasser schneidenden Spitze Kies- und Sandstrand zusammentrafen. Zu meiner Rechten, in südlicher Richtung, konnte ich den Verlauf der Küstenlinie ausmachen und einen großen Felsen, der steil aus dem Meer in die Höhe ragte. Weit draußen auf dem Wasser schien flüchtig ein Licht aufzuglimmen, der Scheinwerferstrahl eines Leuchtturms, aber vielleicht, dachte ich, war das Licht auch nur Einbildung gewesen.
    Ich lockerte meinen angespannt auf den Horizont gerichteten Blick und ließ ihn von der Stelle fortwandern, wo ich das Licht gesehen hatte. Sollte das Signal, wenn es wirklich eines gab, von selbst in mein Blickfeld kommen.
    Ein plötzliches feines Geräusch erschreckte mich. Ich krallte meine Hand in den Stoff des Bettüberwurfs und hielt den Atem an, um genauer horchen zu können. Ich hörte das Knirschen eines Schlüssels im Schloß, knallende Schritte im Flur. Er ist früher nach Hause gekommen als ich glaubte, dachte ich. Ich muß mich schlafend stellen. Ich muß das Licht ausmachen.
    Aber es waren gar keine Schritte im Flur. Es war lediglich ein Auto, ein tuckernder Motor, unten auf der kleinen Straße. Ich ließ den Bettüberwurf los und starrte auf meine Hände.
    Ich horchte zu dem Auto auf der Straße hinunter, hörte das Pfeifen des Rückwärtsgangs, dann ein Geräusch, als schrammte etwas Hartes über Kies oder Eis. Das mußte der Mann mit dem Schneepflug sein. Ich stand auf, um aus dem Fenster zu schauen, konnte ihn aber von dort oben aus nicht sehen.
    Unten im Wohnzimmer begann Caroline zu weinen. Ich bekam zu tun, mußte sie wickeln, stillen, ihre Kleider einräumen. Das Wummern und Schrammen des Schneepflugs war nur noch Hintergrundgeräusch.
    Nach einer Weile hörte ich den Wagen draußen auf der gekiesten Einfahrt. Mit Caroline auf dem Arm ging ich zum Wohnzimmerfenster und schaute hinunter. Der Wagen war ein rostiger roter Pick-up mit Aufsatz, nicht viel anders als die Fahrzeuge, die ich am Morgen bei der Genossenschaft gesehen hatte. Unter dem Fenster auf der Fahrerseite prangte in Goldfarbe, die teilweise abgeblättert war, irgendein Emblem. Der Fahrer sprang aus dem Wagen. Er trug eine Red-Sox-Baseballmütze und eine Jeansjacke, die um den Bauch herum zu eng war.
    Er klopfte an die Glasscheibe der Tür. Mit dem Kind im Arm ging ich hinaus und machte auf. Er stand mit einem

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