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Gefürchtet

Titel: Gefürchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Veranda drehte sich Jesse mit dem Rücken zu den Stufen, damit ich ihn hi naufziehen konnte. Keith wandte den Blick ab und starrte in die Nacht hinaus.
    Dann folgte er uns nach drinnen. »Sie will aber nicht runterkommen.«
    »Zu betrunken?«
    »Zu durcheinander.« Er raufte sich das Haar. »Sie hat nach Evan gefragt, aber du musst unbedingt auch mit ihr reden. Bitte. Es sind doch nur sech zehn Stu fen«, sagte er flehentlich.
    Jesse blickte mich wortlos an. Ich begriff und rannte die Treppe hinauf.
    Auf dem Absatz oben roch es muffig, als wären die Fenster im ersten Stock seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Der süßliche Duft ei nes Potpourris mischte sich in die stickige Luft. Die Beleuchtung war gedämpft.
    »Kannst du es nicht wenigstens versuchen?«, fragte Keith unten.
    Jesse lachte, aber es klang trostlos. »Dass mir das nicht eingefallen ist! Wenn ich schon dabei bin, kann ich ja auch versuchen, Chinesisch zu sprechen.«
    Ich rief nach Patsy und spähte in ein Schlafzimmer. Das Bett war ungemacht, und PJs Kleider lagen auf dem Boden verstreut. Ich eilte durch den Flur zu Jesses altem Zimmer. Es brannte kein Licht.
    »Keith?«, fragte Patsy von drinnen.
    »Ich bin’s, Evan.«
    Die Vorhänge waren offen. Im Licht der Straßenlampe
kauerte Patsy unter dem Fenster auf dem Boden. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und schaukelte vor und zu rück. Ihr Haar war wirr, und sie stank nach Alkohol. Ich schaltete eine Schreibtischlampe an.
    In ihrem bernsteinfarbenen Licht erwachten die Wände zum Leben. Verblüfft trat ich zurück. Glanz und Glitzer strahlten mir entgegen. Vom Boden bis zur Decke war jeder Quadratzentimeter der Wände mit Pokalen, Fotos, Medaillen und Urkunden bedeckt.
    Und alle hatte Jesse gewonnen.
    Eine Wand bestand nur aus Pokalen, die aufgereiht waren wie die Skyline von Manhattan. Über dem Bett hingen gan ze Medaillenbündel, vom Kinderschwimmen, von der Jugendolympiade, d er k alifornischen Meisterschaft, B ig West, d er Meisterschaft der amerikanischen Universitäten, von US-Meisterschaften, den Panpazifischen Spielen. Ein Regal bog sich unter säuberlich beschrifteten Videokassetten und Reisetagebüchern: Weltsportspiele der Studenten, Ausscheidung für Olympia, Weltmeisterschaft im Schwimmen. Am hellsten strahlte die Wand mit den gerahmten Fotos. Reisebilder - Jesse mit der US-Mannschaft am Roten Platz, vor der Verbotenen Stadt und auf der Syd ney Harbor Bridge. Und die vielen Fotos von Wettbewerben: Jesse als sechsjähriger Lausbub, der fast platzte vor Begeisterung. Als großspuriger und dennoch sympathischer Sechzehnjähriger und als Zweiundzwanzigjähriger auf der Höhe seiner Kraft, geschmeidig wie ein Raubtier, durch nichts zu bremsen. Jesse, wie er beim Schmetterlingsschwimmen das Wasser attackierte, wie er von Startblöcken sprang. Es war der Kamera gelungen, sein Feuer und sei ne verblüffende körperliche Kraft ein zufangen.
    Es gab sogar ein paar Triathlonfotos aus dem Sommer, in
dem wir uns kennengelernt hatten. Die Ausstellung umfasste Jesses Leben bis zu dem Tag, an dem er mit Isaac Sandoval Radfahren gegangen war und an ein Rettungsbrett geschnallt zurück ins Tal gebracht wurde. Dann war Schluss. Patsy hatte das Gestern archiviert.
    Sie hatte jede Erinnerung an ihn aus dem Erdgeschoss entfernt, wo er sie hätte sehen können und wo sie die Trauer der Familie über das Heute wachgehalten hätte, und hatte sie hier versteckt. In ihrem geheimen Schrein.
    Sie und Keith schämten sich nicht für Jesse. Sie waren außer sich vor Schmerz.
    »Ich wusste es doch nicht.« Ihre Stimme war heiser von Marlboros und Wodka, und ihre Wimperntusche war verschmiert. »Woher hätte ich es wissen sollen?«
    Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl. »Er zähl mir, was passiert ist.«
    »Ist Jesse hier?«
    »Unten bei Keith. Patsy, was hast du nicht gewusst?«
    »Dass ich sie nicht reinlassen durfte. Keiner hat mir was gesagt.«
    Eine düstere Vorahnung befiel mich. »Sinsa Jimson?«
    »Sie hat Patrick gesucht. Sinsa war schon früher hier. Ein richtiges Püppchen.« Sie umklammerte ihre Knie. »Sie hat mir Cranberry-Wodka mitgebracht. Da ist doch nichts dabei, ein Gläschen mit einer Freundin von PJ zu trinken.«
    Ich hörte Jesse und Keith im Erdgeschoss laut debattieren.
    »Sie war so gesprächig und so verständnisvoll. Sie hat gesagt, sie weiß, dass die beiden einander mögen. Trotz allem.«
    »Jesse und PJ?«, fragte ich.

    »Das stimmt auch, die beiden haben sich wirklich

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