Geh nicht einsam in die Nacht
gerade das Colombia erreichten, die Tür aufrissen und sich aus dem schneidenden Wind hineinschoben.
Er sah es sofort: Ariel erblasste, obwohl der Gruß noch gar nicht ausgesprochen worden war.
Das Gerücht von der Anzeige und den Ermittlungen machte eine gute Woche lang die Runde. Jouni blieb genügend Zeit, sich ernsthaft Sorgen zu machen, und er stand schon in den Startlöchern, um nach Hamburg zu fliehen und sich dort zu verstecken, bis Mikko Ervander und seine Familie sich beruhigt hatten. Er hatte seine spärlichen Ersparnisse abgehoben und stand ständig unter Strom: Jeden Tag konnten uniformierte Schutzpolizisten bei Frau Toropainen klingeln und nach ihm fragen, bei jeder beliebigen Vorlesung konnten in der obersten Reihe plötzlich zwei ungewöhnlich alte Zuhörer sitzen und nicht den Professor oder Dozenten vorne, sondern ihn aufmerksam beobachten. Er ließ über Ariel anfragen: Waren die Bullen bei Hurme oder Suhonen aufgetaucht? Die Antwort kam vierundzwanzig Stunden später und lautete Nein, aber Jounis Sorge wollte nicht weichen. Nach der nächsten Dienstagsprobe, als Adriana erneut ihrem Mädchenzimmer und den Lehrbüchern den Vorzug vor dem Colombia gab, erzählte er Ariel von seinem Fluchtplan und fragte: »Kommst du mit?«
»Nach Hamburg? Mit welcher Knete denn? Außerdem k-kann keiner von uns Deutsch, da müssten wir schon Addi mitnehmen«, antwortete Ariel.
»Na, dann frag sie doch«, erwiderte Jouni.
»Vergiss es«, sagte Ariel, »sie sagt sowieso, dass sie Prüfungen hat. Außerdem können wir gar nicht wegfahren. Wir müssen proben, damit die Platte gut wird.«
»Wenn die Bullen hinter mir her sind, haue ich ab«, sagte Jouni. »Wegen so einem Drecksack wie Ervander gehe ich nicht in den Bau.«
»Brauchst du nicht Elinas Unterschrift auf einem F-formular, um abhauen zu können?«, erkundigte sich Ariel. »Du bist doch noch keine einundzwanzig.«
»Die habe ich«, antwortete Jouni.
»Hast du ihr etwa gesagt, worum es geht? Sie muss ja völlig fertig sein!«
»Natürlich nicht. Ich habe ihr gesagt, dass ich verreisen würde, um Material für eine Arbeit in Sozialpolitik zu sammeln, und dass dieses Material später die Basis für meine Examensarbeit bilden soll.«
»Nett.«
»Fand ich auch. Aber meine Mutter hat trotzdem die Hände gewrungen und geweint und gejammert. Als sie ins Bett gegangen ist, hat sie wahrscheinlich ein Ferngespräch mit Gott bestellt.«
* * *
Die Sache wurde nie zu einem Fall für die Polizei. Stattdessen bekam Jounis Kusine Irja einen Brief von Mikko Ervander. Er war auf dem offiziellen Briefpapier des Ervanderschen Industriekonzerns verfasst worden, und Ervander schrieb darin, dass die Verlobung natürlich gelöst werden müsse, er jedoch für seine vielen »Verfehlungen und unbedachten Worte« um Verzeihung bitten wolle. Ervander verpflichtete sich darüber hinaus, für sämtliche Kosten der zahnärztlichen und sonstigen medizinischen Behandlungen aufzukommen, die Irja bis Ende Mai durchlaufen werde, und legte die Adresse einer Anwaltskanzlei bei, an die sie die Rechnungen schicken sollte.
Als Jouni von dem Brief an Irja erfuhr, war er zunächst sehr erleichtert, aber seine Erleichterung wich schon bald gemischten Gefühlen. Er schämte sich für seine Rolle bei dem Ganzen und schwor sich, nie wieder seine Faust zum Schlag zu erheben. Danach vergaß er das Ganze jedoch nach und nach, denn es wurde Frühling, und sie hatten immer mehr Auftritte und probten gleichzeitig immer intensiver, je näher der Aufnahmetermin rückte, das Studio war für den 15. Mai gebucht worden. Außerdem war es ein Frühjahr voller großer Umbrüche. Bei den Parlamentswahlen hatten die Linken einen erdrutschartigen Sieg errungen, im Alten Studentenhaus wurde von linken Studenten die radikale Lappo-Oper uraufgeführt, die frisch erwachte Aufmüpfigkeit und Unruhe der Jugend tauchte sogar in den Spalten der konservativen Zeitungen auf, es lag nicht nur ein Hauch von Frühling, sondern auch von unwiderruflichen Veränderungen in der Luft. Jouni und Adriana vernachlässigten in diesem Frühjahr ihr Studium, und keiner von ihnen sollte jemals an die Universität zurückkehren, jedenfalls nicht von ganzem Herzen: Adriana unternahm in den folgenden Jahren einige allerdings immer erfolglosere Versuche, ihr Studium wieder aufzunehmen. Es gibt so vieles, für das es so viel schneller zu spät ist, als man glaubt. Adriana hatte diesen Satz zwar noch nicht gehört, aber eines Tages, eines
Weitere Kostenlose Bücher