Gehetzt - Thriller
In der Mitte des Raums war unter der Decke ein Ventilator angebracht, der sich langsam und gemächlich drehte und für eine angenehme Brise sorg te. Die Fenster waren geöffnet, und Gail hörte Autos vorbeifahren. Von den Menschen, die auf den Bürgersteigen durch den Sommerabend flanierten, drangen Gesprächsfetzen zu ihnen hinauf. Die Decken waren hoch, es war eine Altbauwohnung aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.
»Darf ich euch etwas anbieten?«, fragte Mel. »Vielleicht ein Glas Wein?«
»Eine Dusche«, entgegnete Gail. »Eine Dusche wäre grandios.«
»Ich hätte am liebsten etwas zu essen«, sagte Diane.
Er sah Gail an. »Komm mit.«
Als sie im Bad war und die Tür abgeschlossen hatte - weil sie es so wollte - und die kühlen, sauberen Fliesen unter ihren nackten Füßen spürte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte auch Hunger, aber das Essen konnte warten. Was sie jetzt am al ler meisten wollte, war, al lein zu sein. Sie ließ die Tränen leise hinunterkullern. Nicht, dass sie traurig war oder verwirrt oder ängstlich, all das war sie natürlich auch, aber ihre Tränen waren Tränen der Erleichterung und Freude - Freude darüber, zum ersten Mal seit achtzehn Jahren ein bisschen Privatsphäre und Be haglichkeit zu haben. Ohne dass irgendjemand weiter unten auf dem Gang lauthals schrie, und ohne Angst haben zu müssen, dass ein Aufseher aufkreuzen
und sie ins Büro des Gefängnisdirektors beordern würde oder jemand versuchte, sie auf dem Weg zur Essensausgabe zu begrapschen. Privatsphäre. Ihr eigener kleiner Raum in einer überfüllten Welt, auch wenn es nur ein geliehener Raum war. Sie setzte sich auf die Toilette und wickelte vorsichtig den Verband ab. Diane hatte gute Arbeit ge leistet, aber die Wunde war immer noch offen. Wahrscheinlich wäre es besser, die Wunde trocken zu halten, aber egal, sie würde trotzdem duschen.
Das warme, über ihre Haut fließende Wasser war eine einzige Wonne. Gail nahm etwas Shampoo und schäumte erst ihr Haar ein und dann mit einem Stück Seife ihren ganzen Körper. Was für ein zivilisiertes Gefühl, sich allein zu waschen, anstatt mit sechs anderen Frauen in einer Gemeinschaftsdusche zu stehen. Die kleinen Dinge des Lebens. Es waren genau diese kleinen Dinge, deren Entbehrung das Gefängnis wirklich zur Hölle machten. Die Seife roch nach Lavendel. Im Gefängnis roch das »Seife« genannte scharfe Desinfektionsmittel ein biss chen wie Lysol. Gail stand da, ließ das Wasser auf sich hi nabregnen und den Schaum langsam und genüsslich abspülen. Hier war sie sicher, zumindest vorübergehend. Das wusste sie. Mel war ihr Fels in der Brandung.
Doch in ih rem Hinterkopf überstürzten sich ihre Gedanken wie Wasser in einem Wasserfall: Was soll ich jetzt tun? Was soll ich als Nächstes tun, und was dann, und was dann?
Draußen im Salon machte es Diane zusehends nervös, sich einem Anwalt gegenüberzubefinden. Sie dachte zurück an ihre Vereidigungszeremonie, als sie mit den anderen Polizeianwärtern mit erhobener rechter Hand in einer Reihe gestanden und geschworen hatte, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu schützen und zu verteidigen. Abgesehen davon, dass sie irgendwann zu Highschoolzeiten den Anfang des Eids auswendig gelernt hatte - Wir, das Volk der
Vereinigten Staaten von Amerika, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern und so weiter und so fort - und sie natürlich die verschiedenen Zusatzartikel gebüffelt hatte, die für den Gesetzesvollzug auf der Straße von Belang waren, etwa die Abschnitte über Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Schnellverfahren, hatte Diane noch nicht besonders viel mit der Ver fassung zu tun ge habt. Aber Diane hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie alles andere tat, als die Verfassung zu verteidigen, wenn sie sich mit Gails Leuten einließ - ei nem Netzwerk von Radikalen. Andererseits gab es für sie keine gesetzliche Verpflichtung mehr, die Verfassung zu schützen. Man hatte sie vom Dienst suspendiert, man hatte das Gesetz benutzt, oder eher missbraucht, um sie hinter Gitter zu bringen. Sie waren also jetzt genauso gut ihre Feinde wie die von Gail. Wobei Gail sie offenbar gar nicht mehr als ihre Feinde betrachtete. Es war, als wäre Gails Revoluzzertum nur eine Phase in ihrer Teenagerzeit gewesen, aus der sie längst he rausgewachsen war. Jetzt schien sie sich nur noch vollständig in die Gesellschaft
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