Gehetzt - Thriller
Abend, nachdem der Arzt, ein en ger Freund von Mel, wieder gegangen war und Gails Knöchelverletzung ordentlich genäht und verbunden war und der Arzt Gail geraten hatte, das Bein vierundzwanzig Stunden lang nicht zu belasten, gesellte Mel sich zu Gail, die in ihrem Zimmer war. Sie lag auf dem Bett und las eine Frauenzeitschrift, die voll war mit Schönheitstipps, Diätvorschlägen und dümmlichen Ratschlägen, wie man zur Ruhe kommen und sein Leben in den
Griff bekommen konnte. Nichts von Substanz. Mel setzte sich neben sie; er schien sich unbehaglich zu fühlen.
»Was ist?«, fragte sie ihn.
»Ich weiß nicht, wie ich es diplomatisch rüberbringen soll. Ich glaube, du solltest sie loswerden.«
Gail war sprachlos; für einen Moment überlegte sie, ob er recht hatte, doch dann war sie sicher, dass er falschlag.
»Das kann ich nicht«, stellte sie klar. »Wenn sie nicht gewesen wäre, säße ich jetzt im Gefängnis und hätte eine Anklage wegen Fluchtversuchs am Hals.«
»Das verstehe ich ja. Aber jetzt seid ihr beide draußen. Du musst deinen eigenen Weg gehen.«
»So weit bin ich noch nicht. Außerdem hat sie kein Netzwerk, Mel. Sie hat niemanden, der ihr hilft. Sie braucht mich, oder sie wird garantiert geschnappt.«
»Bist du jetzt plötzlich ihre Mutter oder was? Du musst untertauchen, und wir kön nen dir dabei helfen, aber frü her oder später seid ihr überall in den Schlagzeilen: zwei weiße Frauen auf der Flucht. Ihr müsst euch trennen.«
»Das werden wir aber nicht.«
»Warum nicht?«
»Warum sollten wir? Wir tauchen einfach unter, fertig, aus. Wir sind doch schon untergetaucht. Und morgen sind wir wieder unterwegs. Weg von hier. Verschwunden.«
»Das ist nicht zu deinem Besten.«
»Ich bin es ihr schuldig. Wir haben es gemeinsam geschafft. Nicht eine von uns allein - gemeinsam.«
»Du schuldest ihr nichts.«
»Das stimmt, da hast du recht. Ich schulde niemandem irgendetwas. Aber sie verdient es, dass man ihr unter die Arme greift. Sie wurde gelinkt, verdammt noch mal. Durch und durch gelinkt.«
»Das ist nicht deine Angelegenheit.«
»Absolut richtig. Aber ich will ihr helfen.«
»Warum?«
»Weil ich das Gefühl habe, dass sie Hilfe braucht. Und weil ich glaube, dass ich ihr helfen kann.«
»Du hast dich nicht verändert.«
»Hab’ ich wohl. Total. Aber ich weiß immer noch, was richtig ist und was falsch.«
»Das soll richtig sein? Zu riskieren, dass du wieder hinter Gittern landest? Und dann auch noch für einen Cop!«
»Ich habe nichts zu verlieren.«
»Doch! Deine Freiheit. Du warst achtzehn Jahre eingesperrt. Willst du wieder zurückwandern in den Knast und weitere Jahre hinter Gittern verbringen?«
»Ich gehe nicht zurück.«
»Wenn du mit dem Profil übereinstimmst, nach dem sie suchen, können sie dich viel einfacher schnappen.«
»Da draußen laufen haufenweise weiße Frauen herum, viele zu zweit, viele mit Freundinnen. Wieso sollten wir da auffallen?«
»Hast du dich verliebt?«
»Nein! Verhalten wir uns etwa wie Verliebte?«
»Es ist beeindruckend, wie du dich für sie einsetzt.«
»Aber nicht, weil wir ein Liebespaar waren.«
»Gut.« Er entspannte sich ein wenig. »Wenn wenigstens dein Urteilsvermögen nicht getrübt ist.«
»Nicht mehr als sonst.«
Mel lachte und lockerte seine Krawatte.
»Du hast doch ein bisschen Geld. Von dei nen Eltern.« Er nahm einen Umschlag aus seiner Gesäßtasche und hielt ihn ihr hin. »Fünfzehntausend«, sagte er. »Du hast noch mehr. Aber es ist angelegt. Ich sollte auch kei ne größeren Summen davon abheben. Falls jemand ein Auge darauf hat, was von jetzt an mit Sicherheit der Fall sein wird.«
Gail nahm den Umschlag und dachte daran, wie ihr Vater sie damals gegen Kaution rausgeholt hatte und wie verletzlich und stolz er auf der Rückfahrt nach Connecticut gewesen war. Und an ihre Mutter, die nie ein Wort darüber verloren hatte, was sie alles für Gail getan hatte, sondern einfach nur glücklich gewesen war, sie während der Collegejahre an den Wochenenden zu Hause zu haben. Es war eine Ewigkeit her. Sie waren gute Menschen gewesen, und Gail wünschte, sie hätte ihnen näherstehen können.
»Ich könnte mich mit den Behörden in Verbindung setzen«, sagte Mel, »und versuchen, mit ihnen auszuhandeln, dass du zu rückkommst, wenn sie dich nach Absitzen deiner ursprünglichen Strafe rauslassen.«
»Das meinst du nicht im Ernst, oder?«
»Nein. Aber es ist meine Pflicht als dein Anwalt, dich darauf
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