Gehetzt - Thriller
normales Leben als gesetzestreue Bürgerin zu führen. Eine neue Identität aufzubauen. Eine sinnvolle Arbeit zu finden. Teil einer Gemeinschaft zu werden. Vielleicht sogar eine neue Beziehung einzugehen. Gail hatte schon Be richte über Frauen gelesen, die auch in den Vierzigern noch Kinder bekommen hatten, einige sogar erst in den Fünfzigern. Vielleicht war sie doch noch nicht endgültig zu alt. Viel leicht konnte sie sogar - sie wies sich selbst in die Schranken, wagte nicht, sich zu große Hoffnungen zu machen. Man sehe sich nur Sara Jane Olson an. Vierundzwanzig Jahre hatte die von der Polizei gesuchte
Terroristin unter falschem Namen ein bilderbuchhaftes Leben als unbescholtene Bürgerin geführt und war dann eines Nachmittags auf einer Vorortstraße in St. Paul von der Polizei angehalten worden, als sie gerade mit ihrem Minivan unterwegs gewesen war. Ende der Freiheit. Gail konnte sich noch an die Schlagzeile der New York Times er innern. War diese Bilderbuchmama eine Terroristin? Was wäre, wenn es ihr gelänge, sich ein neues Leben aufzubauen, wie Mel es ihr geraten hatte, wenn sie Kinder bekäme und sie liebevoll großzöge und das ganze Tohuwabohu, das eine Familie zu haben nun einmal bedeutete, erfolgreich bis zu dem Tag bewältigte, an dem ihr ältester Sohn seinen Studienabschluss machte, bloß um auf dem Weg zur Abschlussfeier von der Po lizei angehalten zu werden und zurück in den Knast zu wandern? Was würden die Vertreter der Macht von ihr verlangen? Wie viel würden sie ihr nehmen? Würden sie ihr womöglich alles nehmen, was sie nur konn ten, würden sie ihr jede Minute ihres Lebens stehlen, bloß weil es in ih rer Macht stand, das zu tun? Möglicherweise war es in mancher Hinsicht einfacher, sich außerhalb des Gesetzes zu bewegen und auf jeden Versuch zu verzichten, ein normales Leben zu leben. Ungeachtet der Frage, ob sie dazu überhaupt imstande wäre, war Gail nicht einmal sicher, ob sie das eigentlich wollte. Wenn sie zurückdachte an ihre Kindheit in ihrer überaus normalen Familie, wenn sie sich die Tage dieses Vorstadtdaseins in Erinnerung rief, dann war sie sich, obwohl sie ihre Eltern geliebt hatte und im Laufe der Jahre sogar dazu übergegangen war, sie zu respektieren, wie sie waren (nach ihrer Verurteilung hatten sich ihre Ansichten im positiven Sinne geändert), gar nicht so si cher, ob sie wirklich wieder in diese Welt eintreten wollte. Ein solches Leben konnte genauso erdrückend sein, wie es das Ge fängnisdasein gewesen war. Auf eine gewisse, schleichende Weise vielleicht sogar noch schlimmer.
Dianes Augen waren geschlossen, und Gail spürte, wie ihre eigenen Augenlider sich ebenfalls der Schwerkraft und Erschöpfung und wer weiß was noch beugten; sie spürte, wie Schläfrigkeit sie überkam und ihren Körper einhüllte wie eine warme, flauschige Decke. Im Gefängnis war es ihr nie voll zu Bewusstsein gekommen, aber jetzt, da sie draußen war, wurde ihr klar, dass sie sich während der ganzen Zeit, die sie eingesperrt gewesen war, nie wirklich ausgeruht hatte. Sie hatte ge schla fen, ja, ihre Augen wa ren geschlossen gewesen, und sie hatte geträumt. Aber sie hatte sich nie wirk lich ausgeruht. Sie war nicht imstande gewesen, jenen Ort aufzusuchen, an dem Erholung und Regeneration stattfanden. Sie hörte, wie ihr ein tiefer Seufzer entwich, und mein Gott, war das ein gutes Gefühl; sie ließ ihre Augen zufallen, und es war herrlich.
Die Tür des Schlafwagenabteils knallte zu, und Gail schreckte hoch, vorübergehend verwirrt, bis sie realisierte, dass die dunkelhaarige junge Frau mit den kurzen Locken Diane war. Sie sah verstört aus und presste den Rücken gegen die Tür, während sie dastand und eine Ausgabe der New York Post umklammerte.
»Du wirst es nicht glauben.« Sie reichte Gail die Zeitung. Sie waren nebeneinander auf der Titelseite. Grimmige Schwarzweiß-Verbrecherfotos, die im Gefängnis aufgenommen worden waren, unter ihrem Kinn jeweils ihre Häftlingsnummer, darunter eine fette schwarze Schlagzeile:
ZWEI HäFTLINGE AUF DER FLUCHT
Abtrünnige Expolizistin und ehemalige Revolutionärin
brechen spektakulär aus dem Gefängnis aus
Gail saß da und starrte die Zeitung an. Zum Glück war das Foto von ihr beinahe zwanzig Jahre alt. Auf dem Bild funkelten ihre Augen hasserfüllt und voller Verachtung, ihr wild
gelocktes Haar fiel völlig zerzaust über die schlanken Schultern. Sie starrte sich in dem an der Tür des Schlafwagenabteils angebrachten Spiegel an. Sie
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