Geisterflut
Boden fallen ließen. Chess fragte sich allmählich, ob sie die Bücher nicht besser dort liegen lassen sollte, statt sie wieder ins Regal zu räumen. Auf dem obersten Bord konnte sie nichts entdecken, nicht einmal, als sie mit der flachen Hand darüber und durch die Lücke zwischen Regal und Wand fuhr. Sie dachte schon ans Aufgeben, als Terrible den kleinen Silberwolf zur Hand nahm, den sie sich ein paar Jahre zuvor mal gekauft hatte.
»Nein, das ist meiner«, sagte sie.
»Ach ja? Und wozu dient das kleine Loch da im Maul?«
Sie nahm ihm die Figur aus der Hand. »Scheiße. Das ist doch nicht meiner.«
Das Loch war so winzig; Chess konnte sich gar nicht vorstellen, dass es so dünne Bohreinsätze überhaupt gab. Aber es waren auch gar keine verwendet worden, wie die nähere Prüfung erbrachte. Der Silberwolf war eine Spezialanfertigung, der man die Kamera nicht erst nachträglich eingebaut hatte. Ein Meisterwerk. Und zwar eins, das mit ziemlicher Sicherheit von einem der Ausrüstungslieferanten der Kirche stammte. Die Kirche hatte einige Unternehmen unter Vertrag, die derlei Einzelstücke, die in besonders schwierigen Fällen zum Einsatz kamen, für sie herstellten.
»Es kann Wochen dauern, so was bauen zu lassen«, sagte Chess. »Es sei denn, man zahlt einen happigen Eilzuschlag oder hat Top-Beziehungen.«
»Na ja-« Terrible nahm ihr die Silberfigur aus der Hand, ging damit in die Küche, legte sie in den Kühlschrank und schloss die Kühlschranktür. »Diese Goody, von der du gesprochen hast: Auf die trifft das doch zu, oder?«
»Ja, aber dann hätten sie nur zwei Tage Zeit gehabt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass eins unserer Vertragsunternehmen das so schnell hinkriegt.«
»Wieso zwei Tage?«
»Weil der erste Einbruch doch nur zwei Tage her ist.«
Terrible zuckte mit den Achseln. »Wer sagt denn, dass das der erste war?«
Chess überkam mit einem Mal eine große Müdigkeit. Sie ließ sich aufs Sofa plumpsen und zog zwischen den Sofakissen eine verknautschte Zigarettenpackung hervor. Leer. Terrible steckte sich eine von seinen an und reichte sie ihr.
»Bump hat mich doch erst am Freitag gebeten, die Sache mit dem Flugplatz aufzuklären. Das war doch am Freitag, oder? Ja, am Freitag. Und den Morton-Fall hab ich am Tag drauf übernommen. Das ist alles noch nicht mal eine Woche her.«
»Dein Freund von gegenüber sagt aber, die hätten heute Morgen hier was hinterlassen. Dann haben sie die Kamera also schon früher hier aufgestellt, sind heute noch mal wiedergekommen, haben Brain abgeladen und noch was anderes zurückgelassen.«
»Ich seh aber sonst nichts auf dem Regal, und er hat gesagt, es wär auf dem Regal.«
»Vielleicht hat der Typ nur die Kamera gecheckt. Das muss ja nich bedeuten, dass er da was Neues hinterlassen hat. Wann hast du dich denn das letzte Mal hier in der Bude ʼn bisschen genauer umgesehen?«
Das hätte sie doch gespürt, wenn etwas Magisches hier hinterlassen worden wäre, nicht wahr? So wie sie es auch in den Beinen gespürt hatte, als sie über die Stelle neben der Landebahn gegangen war.
Und sie hatte hier in der Wohnung nichts Ungewöhnliches gespürt, besser gesagt: nichts außer der generellen Gruseligkeit, die sie jedes Mal empfand, wenn fremde Leute in ihrer Wohnung waren. Doch wenn es erst in den vergangenen Tagen, in denen sie sich ja kaum zu Hause aufgehalten hatte, hier hinterlassen worden war ...
Terribles dunkler Blick folgte ihr, als sie nun aufstand und mit halb geschlossenen Augen im Raum auf und ab ging. Das Bücherregal kam nicht infrage. Sie hatte davor gestanden und nichts gespürt. Das übrige Wohnzimmer aber und die ganze restliche Wohnung hatte sie in den letzten Tagen kaum angerührt.
Sie hätten es nicht unter dem Bett platziert, denn dort hätte sie es viel zu leicht entdeckt. Es befand sich auch nicht unter dem Sofa, denn das hätte sie gespürt, als sie darauf saß. Also: Wo hielt sie sich sonst noch häufig auf? Wo wäre sie in der Nähe, aber nicht so nah, dass sie es unmittelbar spüren würde?
Die Antwort bekam sie, als sie neben den alten Sessel trat. In dem Augenblick, da sie mit dem Fuß gegen den schweren braunen Cordsamt-Behang stieß, drehte sich ihr fast der Magen um.
»Terrible, gib mir mal meine Tasche.«
Sie hörte, wie er sich bewegte, wandte sich aber nicht zu ihm um. Während sie hinsah, gerieten die Umrisse des Sessels ins Schwimmen; eine optische Täuschung, die sie fasziniert anstarrte. Was immer hier versteckt
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