Geliebte Feindin
ihr augenblicklich den Rücken zu. Trotzdem erkannte sie, daß viele eine unnatürlich graue Gesichtsfarbe hatten und ihr finstere Blicke zuwarfen. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie die Treppe zum Oberdeck erreicht hatte. Sie achtete kaum darauf, wohin sie ging; sie wollte nur so schnell wie möglich die düsteren Mienen hinter sich lassen.
Das Oberdeck war voll von Masten und Tauen, und es gab kaum Platz, spazierenzugehen. Sara kauerte sich neben das kleinste Segel in eine Ecke und legte den geöffneten Sonnenschirm zwischen zwei dicken Tauen ab.
Sie war sich nicht bewußt, wie lange sie dort saß und über einen Plan nachdachte, wie sie die Mitglieder der Mannschaft wieder für sich gewinnen konnte. Ihre Arme und ihr Gesicht nahmen rasch eine leicht rötliche Färbung an. Da es sich für eine Dame nicht schickte, einen sonnengebräunten Teint zu haben, beschloß Sara, wieder nach unten zu gehen und ihrer Tante einen Besuch abzustatten.
Sie freute sich darauf, mit jemandem reden zu können, der sie gernhatte. Nora würde sie nicht für ihren Irrtum tadeln, und ein freundliches Gespräch war genau das, was Sara jetzt brauchte.
Sie stand auf und griff nach ihrem Sonnenschirm, nur um im nächsten Moment festzustellen, daß sich die dünnen Speichen in den Seilen verfangen hatten.
Sara brauchte gut fünf Minuten, um die Knoten in den Seilen und Tauen zu lösen und ihren Sonnenschirm teilweise freizubekommen. Der Wind frischte auf, und das erschwerte das Unterfangen erheblich. Das Flattern der Segel war laut genug, um Saras ärgerliches Gemurmel zu übertönen. Sie gab ihre Bemühungen auf, als der dünne Stoff des Sonnenschirms zerriß. Sie wollte Matthew oder Jimbo bitten, ihr zu helfen.
Sara ließ ihren Schirm liegen und machte sich auf den Weg. Der Ruck war so heftig, daß sie an die Reling geschleudert wurde. Chester fing sie gerade noch in letzter Sekunde auf. Sie drehten sich um, weil sie die Quelle des Lärms erkunden wollten – gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie einer der Masten auf einen größeren prallte.
Chester rannte los und rief laut um Hilfe, als er die Treppe erreicht hatte. Im Nu herrschte ein totales Chaos, und Sara entschied sich, den umherlaufenden Männern lieber aus dem Weg zu gehen. Sie wartete, bis die Männer an ihr vorbeigerannt waren, und ging zu Noras Kajüte. Matthew verließ gerade den Raum, als Sara ankam.
»Guten Tag, Matthew«, grüßte sie freundlich und machte einen Knicks. »Ich bleibe nur ein paar Minuten, um zu fragen, wie es meiner Tante heute geht. Ich verspreche, daß ich sie nicht ermüde.«
Matthew grinste. »Ich glaube Euch, aber trotzdem komme ich in einer halben Stunde wieder, um nach Nora zu sehen.«
In diesem Augenblick schwankte das Schiff wieder heftig von einer Seite zur andern. Sara klammerte sich an den Türknauf, um nicht von den Beinen gerissen zu werden. »Gütiger Himmel, der Wind ist heute ziemlich stark, nicht wahr?«
Matthew war schon längst auf der Treppe und schrie: »Das war nicht der Wind.«
Sara schloß in dem Moment die Tür von Noras Kajüte hinter sich, in dem Nathan auf den Korridor stürmte.
Nora saß wieder aufrecht, gestützt von mehreren Kissen, im Bett, und Sara fand, daß sie erholt aussah.
»Deine Wangen haben wieder Farbe, Nora, und deine blauen Flecken verblassen allmählich. Es wird nicht sehr lange dauern, bis du mit mir an Deck herumwandern kannst.«
»Ja, ich fühle mich besser«, erwiderte Nora. »Und wie geht es dir?«
»Oh, ganz gut«, behauptete sie und setzte sich auf die Bettkante, bevor sie die Hand ihrer Tante ergriff.
Nora runzelte die Stirn. »Ich habe von deinen Kochkünsten gehört, Kind, und ich bin sicher, daß es dir nicht gutgeht.«
»Ich habe nichts von der Suppe gegessen«, brach es aus Sara hervor. »Aber ich fühle mich schrecklich, weil all die Männer so furchtbar krank geworden sind. Das wollte ich wirklich nicht.«
»Das weiß ich doch, Kind«, beschwichtigte Nora. »Und ich habe auch mit Matthew darüber gesprochen. Ich habe ihm klargemacht, daß du nicht einmal im Traum an so etwas Böses denken würdest und ganz sicher nicht mit Absicht etwas Ungenießbares in die Suppe getan hast.«
Sara seufzte. »Ist es nicht scheußlich, daß mir meine Bediensteten so etwas zutrauen?«
»Was ist mit Nathan?« fragte Nora. »Hat er dir Vorwürfe gemacht?«
Sara zuckte mit den Schultern. »Er war natürlich ein wenig böse, aber ich glaube nicht, daß er mir zutraut, daß ich seine
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