Geliebter Feind
schüttelte Gerda immer wieder den Kopf. Schließlich lief sie davon, so schnell es mit ihrem behin-derten Bein ging.
Kathryn konnte zwar Sir Michaels Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, doch sie spürte, daß der junge Ritter recht ärgerlich war.
Aus Sorge um das Mädchen wollte sie die Sache kurze Zeit danach zur Sprache bringen. Zu ihrer Verblüffung brach Gerda schon bei der Erwähnung Sir Michaels in Tränen aus.
Kathryn eilte sofort an ihre Seite und legte ihr einen Arm um die Schultern. An den Standesunterschied zwischen ihnen beiden dachte sie im Augenblick nicht; hier wollte nur eine Frau die andere trösten.
„Gerda, sage mir, was vorgefallen ist", drängte sie. „Hat Sir Michael dir irgendein Unrecht getan?" Eigentlich vermochte sich Kathryn gar nicht vorzustellen, daß der junge Mann jemandem Böses tun könnte. Selbstverständlich war er ein in der Kriegskunst hervorragend ausgebildeter Ritter, doch Kathryn hatte ihn nur als höflichen und freundlichen jungen Menschen kennengelernt, der meistens ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen hatte.
Gerda schluchzte noch lauter.
Kathryn rief sich die vielen Tage ins Gedächtnis, die sie, das Mädchen und Sir Michael - und natürlich Peter - zusammen am Bach verbracht hatten. Sie erinnerte sich daran, wie Gerda dem jungen Mann ein Stück Käse oder eine Scheibe Brot gereicht hatte. Dabei hatten sich manchmal ihre Hände berührt, oder sie und er hatten einander scheu zugelächelt. . .
Kathryn dämmerte die Erleuchtung. Wie hatte sie bisher nur so blind sein können?
„Du bist in ihn verliebt", stellte sie überrascht fest. „Gerda, du liebst Sir Michael!"
„Jawohl, Herrin." Gerda setzte sich gerade auf und wischte sich die Tränen mit den Fingerspitzen fort.
Kathryn drückte ihr fürsorglich ein kleines Spitzentaschen-tuch in die Hand. „Weiß Sir Michael es?" erkundigte sie sich.
Gerda nickte. Kathryn biß sich auf die Lippe. „Und wie denkt er darüber?"
„Er sagt, er liebt mich auch." Das Mädchen schaute auf das zerknüllte Taschentuch in seiner Hand. „Lady Kathryn, er hat gesagt, er will mich heiraten."
„Das ist doch wundervoll!" rief Kathryn aus. „Gerda, du solltest vor Glück außer dir sein, statt hier in Tränen aufgelöst her-umzusitzen!" Sie runzelte zweifelnd die Stirn. „Er ist doch nicht etwa ein Bruder Leichtfuß? Den Eindruck habe ich von ihm ganz und gar nicht."
Gerda schüttelte den Kopf. „Nein, Herrin. Er ist gut und freundlich und ehrenhaft. Keine Frau könnte sich einen besse-ren Gemahl wünschen", setzte sie leise hinzu.
Jetzt verstand Kathryn gar nichts mehr. „Und weshalb tanzt du dann nicht vor Freude?"
„So einfach ist das ja alles nicht... Ich liebe Sir Michael, doch ich will mich nicht dazu hergeben, seine Mätresse zu sein."
Sie machte ein Gesicht, als würde sie gleich wieder Tränen vergießen. „Und seine Ehegattin kann ich nun einmal nicht werden."
„Weshalb denn nicht? Ich gebe zu, daß eine solche Heirat eher die Ausnahme als die Regel ist, doch sie würde zweifellos von der Kirche anerkannt werden."
Gerda schluckte. „Die Lady Elaine hat mich gelehrt, den Kopf hoch zu tragen und stolz auf das zu sein, was ich bin, obwohl ich doch lahme." Sie berührte ihr mißgeformtes Bein. „Ich fürchte, ich habe diese Lehre zu gut beherzigt, denn jetzt besitze ich meinen Stolz und lasse ihn mir von Sir Michael nicht so einfach zerstören."
Das Mädchen lächelte ein bißchen wäßrig. „Er stammt aus einer guten Familie. Zwar ist er kein Erbe, doch sein Vater ist ein Adelsmann. Ich dagegen kann meine bescheidene Herkunft nicht verleugnen. Ich bin die Tochter eines Leibeigenen, und wie mein Vater, so bin ich auch Eigentum des Earls."
Sie schüttelte traurig den Kopf. „Michaels Familie würde mich nicht als seine Gemahlin akzeptieren - niemals! Falls er mich trotzdem heiraten würde, wäre er ein Ausgestoßener." Sie machte eine Pause und sprach dann sehr gefaßt weiter. „Ich lasse es nicht zu, daß er so tief sinkt, Herrin. Und deshalb werde ich ihn nicht heiraten."
Obwohl Kathryn ihr Bestes tat, ließ sich Gerda nicht von ihrem Entschluß abbringen.
Unterdessen wurde aus Sommer langsam Herbst. Die Tage wurden kürzer und flossen gleichförmig dahin. Die Felder waren erntereif, das Brachland wurde zur Vorbereitung auf die nächste Aussaat umgepflügt, und der Haushalt machte sich an die Arbeit, um die Kornspeicher, Speisekammern und Keller mit al-lern zu füllen, was für den langen
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