Gemma
die Röcke hebt. Auf
diesen Wege hätte er deine Frau und lebt in deinem Haus. Und irgendwann bekommt
er sogar deinen Titel und deine Ländereien.«
»Yeah, grandioser Plan. Besonders wenn man
bedenkt dass ich weder den Besitz noch den verdammten Titel überhaupt will.
Wenn mein Vater nicht darauf bestehen würde dass ich sein Erbe bin, und
stattdessen endlich Godfroy benannte, hätten wir uns alle eine ganze Menge
Ärger ersparen können«, murmelte Bryce. Er sah müde aus. Die Linien um seine
Augen und seinen Mund hatten sich tief eingegraben.
»Wann hast du das letzte Mal geschlafen? Ich meine, richtig
geschlafen?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, seit jenem Tag habe ich überhaupt
nicht mehr geschlafen. Versuch du mal mit einem Ständer zu schlafen, mit dem du
Nägel in die Wand treiben könntest.«
Jess grinste. »Warum hast du dir kein Mädchen gesucht, solange du
noch die Gelegenheit hattest?«
Bryce presste die Handballen auf die Augen und fuhr sich dann mit
den Händen übers Gesicht. »Glaubst du etwa, ich hätte es nicht versucht?«,
fragte er, plötzlich müde. »Ich war in so vielen Tavernen, dass ich bereits
Blasen an den Füßen hatte. Wenn ich darüber nachdenke, wie viele vielversprechende
Huren ich gesehen habe, hätte ich ganz woanders Blasen haben sollen. Du weißt,
welche Sorte Frauen ich mag« – Jess nickte –, »und diese Huren waren genau
richtig, aber ich habe bei ihnen einfach keinen hochgekriegt.
Gott, denkst du vielleicht, ich hätte es nicht versucht? Ich habe beinahe jeden
Trick versucht, von dem ich je gehört hatte.« Er lachte trocken auf. »Ich
glaube, ich habe meinen Ruf bei den Londoner Ladies ein für alle Mal ruiniert.
Nach allem, was ich getan habe, um sie in Stimmung zu bringen, konnte ich es
einfach nicht zu Ende bringen. Jedes Mal, wenn der Moment da war, habe ich ein
Paar trauriger, blauer Augen gesehen – und das war's.«
Jess schüttelte den Kopf. Wenn er jemals einen Mann kennen
gelernt hatte, der die körperlichen Freuden des Lebens zu schätzen wusste, dann
war das Bryce Campbell. Was er ihm gerade anvertraut hatte, war beinahe
unglaublich. Kein Wunder, dass Bryce gereizt war wie ein Tiger im Käfig.
Er selbst war nie fremdgegangen, seit er
seine Alice geheiratet hatte, aber das war etwas anderes. Er liebte seine Frau
und die Mutter seiner vier Kinder. Er wollte keine andere Frau, aber Bryce ...
Nach allem, was er gerade gehört hatte, war die einzig logische Erklärung die,
dass Bryce sich verliebt hatte.
Und um seines Freundes willen hoffte er, dass das nicht der Fall
war.
Abgesehen von den wenigen kurzen Momenten, die Gemma
jeden Tag an Deck verbrachte, sah sie nicht viel von Bryce, wofür sie froh und
dankbar war. Sie war sich sicher, dass er ihre Maskerade sofort durchschauen
würde. Seine Sinne waren viel zu scharf. Außerdem würde sie wahrscheinlich auf
die Knie fallen und ihn um Vergebung anflehen, wenn er sie mit seinen
silbergrauen Augen auch nur ansah. Nein, die Situation war viel besser so, wie
sie im Moment war.
Genau wie Brad vorhergesehen hatte, waren die Mitglieder der Crew
eine raue Truppe, aber nachdem Gemma ihre anfängliche Scheu überwunden hatte,
hatte sie sogar mit einigen von ihnen
Freundschaft geschlossen. Sie hatte es aufgegeben, sich auf dem Vordeck zu
verstecken, und gesellte sich in ihren Freiwachen zu den Männern, um ihnen beim
Kabelspleißen und Segelnähen zu helfen. Sie war erstaunt, wie viel die
Seeleute außer Segel hissen und reffen zu tun hatten. An den Abenden trafen sie
sich meistens auf dem Mittelschiff, um zu singen und manchmal auch zu tanzen.
Einige der Männer spielten Instrumente, ein Talent, das die übrigen, nicht so
begabten, hoch schätzten. Dickie Sticks spielte Gitarre und Johnnie Carpenter,
der erste Neger, den Gemma jemals aus der Nähe zu sehen bekommen hatte, konnte
den härtesten Seemann zu Tränen rühren, wenn er diese traurigen und klagenden
Lieder auf seiner Harmonika anstimmte. Außerdem besaß er eine Maultrommel, der
er Töne entlocken konnte, die Gemma nicht für möglich gehalten hatte. Aber
lieber war ihr die fröhlichere Musik der Gitarre, die ihre Füße im Rhythmus
mitzucken ließ.
Nach ihrem zweiten Abend auf dem Mitteldeck rutschte Johnnie zu
ihr rüber und gab ihr die Maultrommel.
»Na los, Kleiner, versuch's mal.«
»Warum?«
»Weil ich nicht die Harmonika und die Maultrommel gleichzeitig spielen
kann. Wenn du mitmachst, können wir alle drei Instrumente
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