Gene sind kein Schicksal
bösartiger die betreffende Gewebeprobe war. Das deutete auf einen noch unbekannten Mechanismus: Liegt es mitunter allein an der epigenetischen Steuerung, ob ein Tumor entsteht oder nicht?
Im Institut für Genetik im Universitätsklinikum Essen arbeitete damals ein junger Biochemiker, der die Berichte über die merkwürdige Methylierung gefesselt verfolgte und sich dazu entschloss, das Rätsel zu lösen. Er hieß Bernhard Horsthemke (der auch das Prader-Willi-Syndrom erforscht), baute damals gerade sein Labor auf und ging die Frage gleich mit seiner ersten Doktorandin, Valerie Greger, an. Die beiden brauchten nicht lange zu überlegen, an welchem Krebsleiden sie die Rolle der Epigenetik erforschen wollten. Das Essener Klinikum war seinerzeit (und ist es bis heute) führend in der Erforschung des sogenannten Retinoblastoms, eines bösartigen Tumors der Netzhaut. Damals war Folgendes bekannt: Ein Tumor-Suppressor-Gen hängt mit dem Retinoblastom zusammen. Wenn beide Kopien (die von der Mutter und die vom Vater) des besagten Gens ausfallen, dann entwickelt der betroffene Mensch in früher Kindheit ein Retinoblastom, das unbehandelt zum Tode führt. Das Tumor-Suppressor-Gen entfaltet seine unheilvolle Wirkung also nur, wenn es ausfällt.
Im Gespräch erinnert sich Bernard Horsthemke zurück, wie ihm Ideen für Experimente einfielen. Er sagte sich damals: »Okay, es könnte doch sein, dass das Gen durch verstärkte Methylierung stillgelegt wird.«
Über das Zentrum für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Essen erhielten Greger und Horsthemke das Ausgangsmaterial für ihr Vorhaben: frisches Tumorgewebe von 21 Kindern mit Retinoblastom. Eine der Proben nannten sie »Tumor G 0288 «; sie stammt von einem zwei Jahre alten Jungen. Der Kleine war auf einem Auge erkrankt und der Einzige aus seiner Familie mit Retinoblastom.
Doktorarbeiten in der Molekularbiologie können sich vier, fünf und auch schon mal sechs Jahre hinziehen. Valerie Greger jedoch kam schnell voran und hatte schon nach wenigen Monaten die Proben gründlich gemustert. In 20 der 21 Proben fand sie aber nicht das Gesuchte: Die betreffenden Menschen erkrankten, weil das Tumor-Suppressor-Gen auf klassische Weise mutiert war. Übrig blieb allein die Probe des kleinen Jungen, »Tumor G 0288 «. Die Sequenz des Tumor-Suppressor-Gens war nicht mutiert – doch dafür fanden sich auffällig viele Methylgruppen an der Erbanlage. Diese Methylierung hatte das Tumor-Suppressor-Gen abgeschaltet, so dass es den Ausbruch eines Retinoblastoms nicht länger unterdrücken konnte. Diese Entdeckung erschien wie eine Sensation: Epigenetische Signale können Krebserkrankungen auslösen.
Euphorisch reichten Valerie Greger und Bernhard Horsthemke ihr Ergebnis bei führenden Wissenschaftsjournalen wie
Nature
und
Cell
zur Veröffentlichung ein – deren Redakteure den Abdruck jedoch verweigerten. Die Befunde wären langweilig und ohne Belang. Doch schließlich erkannte das Journal
Human Genetics
die Bedeutung der Arbeit und räumte den Forschern aus Essen vier Seiten ein. [120]
Die Episode ist bezeichnend für die Erforschung der Epigenetik. Ihre überraschenden Befunde kommen selbst für viele in der Fachwelt zu früh. In der Onkologie indessen wird sie nicht mehr unterschätzt, vielmehr haben Wissenschaftler in der Methylierung einen Schlüsselmechanismus der Krebsentstehung erkannt: Diese kann Tumor-Suppressor-Gene ausschalten und auf diese Weise bösartige Geschwülste entstehen lassen.
Aber auch der umgekehrte Fall, ein Mangel an Methylierung, ist an vielen Krebserkrankungen beteiligt. Die Analyse von Tumormaterial hat das beispielsweise für Krebserkrankungen des Magens, des Darms, der Bauchspeicheldrüse, des Gebärmutterhalses und der Lungen und Nieren ergeben. »Die Methylierung bei Krebs ist eindeutig ein Beispiel für epigenetische Fehlregulation, wobei sowohl die Über-Methylierung als auch die Unter-Methylierung Schlüsselrollen spielen«, urteilt Andrew Feinberg von der Johns Hopkins University School of Medicine im amerikanischen Baltimore. [121] Eindrücklich zeigen dies Untersuchungen an Proben von Menschen mit Wilms-Tumor, einer Krebserkrankung der Nieren. Ärzte haben Proben aus ein und denselben Patienten untersucht. Einige Stellen im Erbgut waren übermethyliert, andere dagegen untermethyliert.
Erreger und Schadstoffe verändern die Epigenetik
Auch Krebszellen haben also ein Gedächtnis, das durch die Umwelt geprägt werden kann. Faktoren aus
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