Gesang des Drachen
Höhle diente als Schlafsaal. Decken lagen in Zehnerreihen nebeneinander auf dem nackten Fels. Es gab nur zwei Betten; Peddyr nahm an, dass sie für die Bewacherinnen gedacht waren. Während der Flucht vor Alberichs Schergen hatte er in einigen Lagern übernachtet, die ähnlich ausgesehen hatten, doch dort hatte es nach kurzer Zeit entsetzlich gestunken. In dieser Höhle roch er nur Feuchtigkeit und verbranntes Öl. Die Kinder mussten sich irgendwo draußen erleichtern.
Und es waren viele Kinder, mehr als zweihundert, schätzte er, als er den Blick nach rechts wandte. Sie bildeten Zehnerreihen wie ihre Decken, knieten auf dem Fels und starrten auf eine nackte Wand. Ein Stück entfernt von ihnen standen die beiden Betreuerinnen an einem großen, grob behauenen Holztisch. Hinter ihnen befand sich eine Feuerstelle, deren Rauch tiefer in die Höhle hineingezogen wurde. Dort musste es irgendwo einen Rauchabzug geben. Ein Eisenkessel hing an einer langen Kette über dem Feuer.
Eine der beiden Bewacherinnen, eine junge, stämmige Frau mit kurzen braunen Haaren, hielt eine Kelle in der Hand, mit der sie Suppe aus dem Kessel in kleine Holznäpfe schüttete. Die zweite Wächterin fügte klein gehacktes Kummerkraut hinzu. Peddyrs Blick blieb an ihr hängen. Sie war groß und schlank, mit breiten Schultern und blonden Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Im Gegensatz zu ihrer dunkelhaarigen Begleiterin wirkte sie muskulös.
»Sie zuerst«, flüsterte Peddyr. »Sie ist gefährlicher als die andere.«
Die Reihen der Kinder fingen rund fünf Schritt von ihnen entfernt an; von den Betreuerinnen trennten sie zwanzig, zu weit, um einfach in die Höhle zu stürmen. Die Frauen arbeiteten schweigend und routiniert. Die Kinder beachteten sie nicht.
Jetzt?
Peddyr schüttelte den Kopf, als Marcas ihn ansah. Warte auf mein Zeichen.
Die Bewacherinnen hatten bereits Dutzende der Näpfe mit Suppe gefüllt. Die kleinere Frau stellte einen Teil davon auf ein Tablett und ging zur ersten Reihe der Kinder.
»Du bist heute dran, Bridget«, sagte sie.
Die Größere hob den Kopf. »Schon wieder?« Sie klang genervt. Peddyr bekam den Eindruck, dass die Frauen sich nicht besonders gut leiden konnten.
Sie wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und trat vor die Kinder. »Lobet den Schattenlord«, sagte sie.
Die Reihen erwachten aus ihrer Starre. Alle Augen richteten sich auf Bridget, aber nichts Lebendiges lag in ihnen, nur Leere. Es war ein unheimlicher Anblick.
»Wir preisen und loben den Schattenlord, unseren Herrn, dem wir diese Gaben verdanken.« Sie alle sprachen gleichzeitig. Kein einziges Kind begann zu früh, keines war zu langsam. »Er ist die Sonne und die Hoffnung, das Leben und die Liebe.«
Die kleinere Frau reichte den Kindern Näpfe. Bridget folgte ihr und sprach jedes einzeln an. »Wer ist dein einzig wahrer Herr?«
»Der Schattenlord.«
»Wen liebst du mehr als deine Eltern, mehr als dein Leben?«
»Den Schattenlord.«
Der Dialog wiederholte sich hundertfach. Mit jedem Mal kamen die beiden Bewacherinnen Peddyr näher. Er ging in die Hocke und spannte sich an. Marcas sah ihn aus seinen seltsam runden braunen Augen an.
Jetzt?
Warte auf das Zeichen!
Die kleinere Frau ging an ihnen vorbei. Peddyr hätte sie mit einem Satz erreichen können, aber er beachtete sie nicht, konzentrierte sich nur auf die, die sie Bridget genannt hatte. Noch eine Reihe trennte sie von ihm und Marcas.
Sie seufzte plötzlich. »Ich bin gleich heiser, Karin«, sagte sie. »Übernimm du den Rest.«
»Es sind doch nur noch zwanzig oder so. Die wirst du schaffen.«
Bridget ging auf sie zu. »Ich stehe über dir.« Sie zupfte an ihrer weißen Armbinde. »Was meinst du wohl, was Frans sagt, wenn ich ihm erzähle, dass du meine Befehle verweigerst?«
Sie hatte Peddyr fast erreicht.
Wie erkenne ich denn das Zeichen?, fragte Marcas nervös.
Karin stellte das Tablett vor den letzten Kindern ab. Sie griffen nicht nach den Näpfen darauf, schienen sie noch nicht einmal zu bemerken. »Ich verweigere gar nichts. Du drückst dich nur vor der Arbeit. Das würde Frans sicherlich auch interess...«
Peddyr stieß sich mit beiden Beinen ab. Karin schrie. Bridget fuhr herum, aber da trafen sie die kräftigen Vogelklauen bereits in die Brust. Krallen rissen ihre Kleidung auf. Sie stolperte und stürzte zwischen die Reihen. Die Kinder reagierten nicht.
Peddyr landete auf ihr, rammte sein Knie in ihren Magen und schlug auf sie ein.
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